Unterhosen, schmutzige    «Sicher, in keinem Fall (und wären wir auch noch so große Dichter, besäßen wir eine noch so lebhafte Phantasie) kann die Vorstellung, zum Mond zu fliegen, das tatsächliche Hinfliegen ersetzen. Andererseits muß man bemerken, daß das tatsächliche Hinfliegen nicht nur unseren Wunsch hinzufliegen nicht erschöpfend befriedigt, sondern auch nicht die tatsächliche Aktion des Hinfliegens (das ist natürlich auf extreme Weise und in einer extremen Kasuistik ausgedrückt). Wie um zu sagen, daß das Nichthinfliegen nicht das Hinfliegen und das Hinfliegen nicht das Nichthinfliegen ersetzt. Dieser Satz ist nur scheinbar unklar und paradox, obwohl er tatsächlich eine Menge untergeordneter Fragen aufwirft. Versuchen wir, uns deutlicher zu erklären: i) Erster Teil des Satzes. -Er mag eindeutig erscheinen und ist es vielleicht sogar in äußerer und logischer Hinsicht; in Wirklichkeit berührt er eine für die innere, aber auch für die äußere Geschichte des Geistes fundamentale Frage, die Frage nämlich, die mich in letzter Zeit quält: Ist die Kunst kompensatorischer Natur (was ihre radikale Unzulänglichkeit verriete)? 2) Zweiter Teil. - a) Etwas, worauf zu Beginn hinzuweisen wäre (eigentlich eher etwas Nebensächliches, aber ich vermerke es als erstes, um es nicht zu vergessen), ist die (in schlechtem Sinn literarische) Beziehung von Willfährigkeit, die sich unweigerlich zwischen dem Künstler und seinem Objekt herstellt; diese Beziehung trübt alles übrige und macht selbst den größten Künstler blöde (hier wird dann, mit der üblichen Promptheit, mit der man das auf verwerfliche Weise Unvermeidliche zu veredeln sucht, von Katharsis durch den Ausdruck und sonstigem absurden Zeug gesprochen), bringt ihn von seiner eigentlichen Aufgabe ab und bewirkt schließlich, daß das Nichthinfliegen (auf den Mond) fast ebenso sinnlos ist wie das Hinfliegen. (Mein Gott, wie maßlos vertrackt das alles ist. Vielleicht läßt sich aus dem Folgenden etwas mehr verstehen.) b) In der physischen Realität bleibt beständig ein Rest, beständig eine Unzufriedenheit bei dem zurück, der versucht, ich sage nicht, sie zu genießen, sondern sie sich überhaupt bewußtzumachen. Ich glaube, das ist das, was ich in dem alten Text vom <Ziehbrunnen des hl. Patrick> (nicht dem unter diesem Titel veröffentlichten)  behauptet habe, den man  sich vielleicht wieder anschauen sollte. Mit anderen Worten, die phänomenale Welt erwartet von  der  Kunst ihre eigentliche Erschaffung: Das kann ohne Furcht vor Dementis behauptet werden, nur daß die Formulierung höchst vage ist. Das heißt: Geht es darum (wie ich in dem genannten Text vielleicht zu glauben zeigte), aus einer reglosen Realität die verborgenen und potentiellen Möglichkeiten herauszuholen, sie zu beleben (indem man freilich in gewisser Weise auf dem bereits Gegebenen aufbaut, kurz, es interpretiert und das Freiwerden der lediglich verborgenen Wunder fördert: Homo, minister et interpres. . .); oder darum, eine Realität ex novo zu schaffen, mal für mal, aber nach bestimmten Regeln, d.h. indem man sich eines Rohmaterials bedient, das im wahrsten Sinn des Wortes reglos und bar aller Eigenschaften ist, ohne Antrieb, ohne verborgene Geistigkeit; oder schließlich darum, eine Realität ohne jede Regel zu schaffen, aus dem bloßen Nichts, indem man auch noch die Materie oder das Material erschafft, das dann durch Zufall (und durch die alleinige Kraft dieser menschlichen Anstrengung durch die Jahrtausende) verkrustet und bleibt, schlecht geschaffen zwar, aber doch nicht mehr ungeschaffen, um das zu bilden, was man eben Materie oder Energie nennt? - Nun ja, die formale Kritik an dem oben aufgestellten Satz hat mich auf müßige Weise zu weitab geführt; und die Hand (immer die physische, versteht sich) ist bereits ermüdet. Außerdem kümmert mich im Moment eine solche Frage wenig. Heute wäre ich geneigt, die physische und die, nennen wir sie ruhig: spirituelle Realität als zwei unterschiedliche Kategorien zu betrachten, von denen die eine absolut nicht ohne die andere auskommt (bravo, ein originelles Resultat!). Das bedeutet, daß eine bestimmte Realität präexistiert, aber auf ihre Qualifikation wartet; bleibt, daß man eine andere schaffen kann, ja schaffen muß, also daß sie nicht die einzig mögliche ist (s. das verdammte Vorw. bzw. die Einführ, zu P, zu der sie mich schließlich gezwungen haben und die den Anlaß zu diesen Betrachtungen lieferte. Sie selbst taugt nichts).»

Genau das habe ich hier oben geschrieben, dann wütend durchgestrichen und das Durchstreichen wieder rückgängig gemacht, «denn schmerzen muß es mich». Na, was soll man davon halten? Nicht von diesen Albernheiten, sondern von einem, der so schreibt, von einem, der so ist? Hier ist der erneute Beweis für alles. - Doch vielleicht bin ich boshafter, als man glaubt: Nicht nur aus Angst vor Strafe, aus Askese habe ich diese obige Verbigeration wiederhergestellt, so wie meine Vorfahren ihre schmutzigen Unterhosen auszogen und sie der Menge darboten. Vielleicht will ich auch zeigen, daß die Literatur nicht nur von Tränen und von Blut trieft, sondern auch von Armseligkeit. Ja, denn aus diesem Zeug könnte man auch zwei beliebige Seiten Literatur machen; für die freilich immer noch das Obige gälte.  - Tommaso Landolfi, Rien va. Reinbek bei Hamburg 1999 (zuerst 1963)

Unterhosen Schmutz

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