„Hör, mein Lieber", sagte meine Mutter,
„du hast doch nicht vergessen, die Uhr
aufzuziehen?" — „Gott verzeih mir die Sünde!"
rief mein Vater ziemlich verdrießlich,
wobei er sich gleichwohl bemühte, die Stimme zu mäßigen. „Hat
wohl jemals eine Frau, solange die Welt besteht, ihren Mann mit
einer so einfältigen Querfrage unterbrochen?" - (
shan
)
Unterbrechung
(2) Ich kenne
einen Jungen namens Fayet, der mit dem verstorbenen Prinzen
Heinrich von Bourbon in Essone ein lustiges Abenteuer
erlebte. Dieser Junge, ein Schüler,
fuhr in der Landkutsche in die Auvergne, wo er herstammte, um
dort seine Ferien zu verbringen. Der Herr Prinz, gerade angekommen,
wurde seiner ansichtig. Er rief.ihn zu sich und fragte, in welchem
Kolleg er sei und in welcher Klasse, und führte ihn dabei unvermerkt
in das Zimmer, in dem man den Tisch für ihn gedeckt hatte. Sie
waren kaum eingetreten, als alle Bedienten sich zurückzogen.
Das war ihre Aufgabe. Er befragte den Jungen weiter und erkundigte
sich, ob er nicht ein paar Kameraden im Kolleg habe, daß man
immer einen haben müsse, um sich gegenseitig zu kitzeln, und
dabei steckte er ihm die Hand in die Hose und meinte: «Ihr versteht
Euch wohl darauf, die Sackpfeife zu spielen» - er mochte höchstens
fünfzehn Jahre alt sein. Er greift nach dem Schwengel des Schülers
und sagt, da er ihn nicht im Stande findet: «Wie, Ihr seid ja
gar nicht in Hitze.» - «Herr», antwortet
ihm jene Unschuld, «es ist die Ehrerbietung,
die mich daran hindert.» - «Ich bin schon heiß», gab der Biedermann
zurück, ließ sich seinen Schwengel anpacken und lehrte jenen
Novizen, mit der linken Hand zu wichsen und die Nieren mit der
rechten zu reiben. Wie sie in solch hübscher Positur sich befanden,
kam ich weiß nicht was für ein Schatzmeister und klopfte an die
Tür. Er war hinter dem Herrn Prinzen hergeeilt, um ihn irgendein
Papier von Wichtigkeit unterschreiben zu lassen. Da war er also
gezwungen, innezuhalten, während er sich vielleicht im höchsten
Kitzel befand. Das brachte ihn so in
Wut, daß er jenen Mann behandelte wie einen
Lumpen und ihn ohne das Gewünschte mit den Worten wegschickte:
«Seht zu, Eure Zeit für die Unterzeichnung von Papieren besser
zu wählen.» - (
tal
)
Unterbrechung
(3) Maigret
klingelte zwei- oder dreimal. Beim zweitenmal hörte er drinnen
ein Geräusch, aber es vergingen fünf Minuten, bis sich die Tür
öffnete.
»Bin ich hier bei Ducrau?«
»Ja. Kommen Sie herein.«
Das Mädchen war vor Aufregung rot, und Maigret lächelte, als er sie anblickte, ohne eigentlich zu wissen, warum. Es war ein dickes, appetitliches Mädchen, besonders wenn man sie von hinten sah, denn ihr grobes Gesicht mit den harten und unregelmäßigen Zügen enttäuschte.
»Wen darf ich melden?«
»Ich bin von der Kriminalpolizei.«
Sie machte zwei Schritte auf die Tür zu und mußte sich bücken, um ihren Strumpf hochzuziehen. Dann machte sie zwei weitere, glaubte sich durch den Türflügel verdeckt, befestigte ihren Strumpfhalter und zupfte an ihrem Unterrodc, was Maigret noch mehr zum Lächeln reizte. In dem Zimmer wurde geflüstert, und dann erschien das Mädchen wieder.
»Treten Sie bitte näher.«
Es lag nicht nur an der Sonne, daß Maigret dieses Lächeln aufsetzte. Es kam aus seinem tiefsten Inneren und verbreitete sich über sein ganzes Gesicht. Schon vor der Tür und in der Diele hatte er geahnt, was vor sich gegangen war. Und jetzt war er dessen sicher, während er sagte:
»Monsieur Ducrau?«
Seine Augen lachten. Sein Mund verzog sich unwillkürlich zu
einer Grimasse, und von diesem Augenblick an war es, als brauchten
sich die beiden Männer nichts mehr vorzumachen. Ducrau sah das
Mädchen an, dann den Besucher und
schließlich seinen mit rotem Samt bezogenen Sessel. Darauf strich
er sich übers Haar, das sowieso glatt saß, und lächelte ebenfalls,
ein geschmeicheltes, ein wenig verlegenes, aber dennoch zufriedenes
Lächeln. - Georges Simenon,
Maigret in Nöten. München 1974 (Heyne Simenon-Kriminalromane
45, zuerst 1933)
Unterbrechung
(4) Trottel, wie wir sind,
haben wir vergessen, die Haustür abzuschließen. So
stürmen die Bullen morgens kurz nach fünf in das Zimmer, wo Anne gerade die
Beine breit macht, während ich schweißgebadet mit meinem dritten Bein auf sie
einrammle.
Die Rindviecher grinsen sich einen und machen obszöne Witze, als mir vor Schreck der Pimmel rausrutscht. Die Erniedrigung macht mich rasend. Sie wissen nicht, daß ich mir bei Milano eine Waffe besorgt habe. Ich stürme los. Die Rammelei muß mir die Optik verschoben haben, denn wie eine Rakete zische ich zwischen den Bullen durch in den Garten hinaus, splitternackt, bloß mit meiner dunklen Brille und Milanos Knarre, einer 7.65 von Manufrance. Mit der Knarre zwischen den Zähnen versuche ich, wie eine Katze das Gitter hochzuspringen. Ich höre Anne schreien. Bullen stolpern durch die dünnen Sträucher. Ich stürze ab und schürfe mir den Ellbogen auf. Ich drehe mich um und feure blind vier Schüsse ab, die niemanden treffen. Die Polypen packen und entwaffnen mich. Es tut weh, als mir einer der Bullen auf seinem Knie das Handgelenk bricht. Die anderen verpassen mir Fußtritte ins Gesicht und in den Unterleib. Meine Nase ist gebrochen. Blut strömt über mein Gesicht. Ein Stiefeltritt in die Eier tut wahnsinnig weh, ich habe furchtbare Angst, kastriert zu sein; dann falle ich in Ohnmacht.
Ich bekomme zehn Jahre. Man soll nie so tun, als wolle man auf die Polizei
schießen. - Jean-Patrick
Manchette, Rette deine Haut, Killer. Bergisch Gladbach 1990 (zuerst 1971)
Unterbrechung
(5) Die Epilepsie ist
der kleine Tod und die Piknolepsie der ganz kleine. Lebendiges und Bewußtes,
Hier und Jetzt gibt es nur, weil es unendlich viele kleine Tode, kleine Unfälle,
kleine Risse gibt und, wie William Burroughs sagen würde: kleine cut-ups
der Tonspur - der Ton- und Bildspur der Erfahrung. Und wenn man Gesellschaft,
Stadt und Politik analysieren will, so ist das, glaube ich, sehr aufschlußreich.
Unser Sehen ist stets eine Montage, eine Montage von Zeitlichkeiten. -
Paul Virilio, nach: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen
Ästhetik. Hg. Karlheinz Barck u.a. Leipzig 1991
Unterbrechung
(6) ich sehe sie
schon die burschen auf dem aeropuerto vom maracaibo ganz in weiß mit pechschwarzen
puros zwischen den gesunden zahnen mestizen wohnen auf kaffeebohnen mulatten
auf der reeperbahn wie brecht so schön sang als die welt noch arbeitslos und
heil war und in weißen händen ah jetzt erinnere ich mich wieder an meinen bildschönen
doch leider abgeschnittenen traum ich hatte von einem weißen mädchen geträumt
das zusammen mit einer schwarzen ein gelbes vergewaltigte
und ich saß dabei auf einem sofa mit einer kaffeebraunen auf dem knie sozusagen
als voyeur und dann schrillte wie gesagt das dreckstelefon und dieser unbekannte
trottel kam mir mit seiner vertreterbesprechung und das soll ich ihm verzeihen
niemals weder im leben noch im traum was wenn ich seelisch labiler wäre und
durch diesen herben schock heftig erkrankte ich würde möglicherweise ohne bei
einer krankenkasse versichert zu sein dem alkohol verfallen meine frau müßte
servieren gehen um unseren lebensunterhalt zu bestreiten meine liebe kleine
tochter in einer gasthausküche geschirrspülen um etwas dazu zu verdienen ein
alptraum meine freunde ein nachtmahr in schlatzgrün ein laubfrosch in einer
sachertorte ein fußpilz in seidensocken ach schwamm darüber meine psychische
stärke ist meine psychische stärke ich habe sie mir während zahlreicher opernbesuche
angeeignet
- H.C. Artmann, Nachrichten aus Nord und Süd. München 1981 (dtv 6317, zuerst
1978)
Unterbrechung
(7) Das Ehepaar lebte
in London. Unter dem Vorwand, eine Reise zu machen, mietete sich der Mann nur
eine Straße von seinem eigenen Haus entfernt eine Wohnung und blieb dort über
zwanzig Jahre, ohne daß seine Frau oder seine Freunde von ihm hörten und ohne
den Schatten eines Grundes für eine solche Selbstverbannung. Während dieser
Zeit kam ihm nicht nur sein Heim jeden Tag vor Augen, sondern auch häufig die
verlassene Mrs. Wakefield. Und nach einer derartigen Unterbrechung seines ehelichen
Glücks — als sein Tod bereits für gewiß galt, sein Nachlaß geordnet, sein Name
der Erinnerung entschwunden war und seine Frau sich seit langer, langer Zeit
in ihren herbstlichen Witwenstand gefunden hatte — trat er eines Abends in die
Tür, gleichmütig, als wäre er nur einen Tag fortgewesen, und wurde bis zu seinem
Tod ein liebender Gatte. -
Nathaniel Hawthorne, Wakefield. In: N.H., Das große Steingesicht. Stuttgart 1983 (Bibliothek von
Babel 9, Hg. Jorge Luis Borges)
Unterbrechung
(8) Am Mittwoch nach meinem
Verdauungsschlaf ging ich hinauf in mein Ankleidezimmer. Dabei fühlte ich mich
nicht anders als sonst. Plötzlich jedoch, ohne das geringste Vorzeichen,
sank ich in Ohnmacht. Ich muß wohl bewußtlos
gefallen und dann durch den Aufprall für einen Moment wieder zur Besinnung gekommen
sein, denn mein Fall, bei dem ich gegen die Badewanne schlug, machte einen fürchterlich
dröhnenden Lärm, der Polly aufschreckte und sie ausrufen ließ: Was ich da eigentlich
triebe? - »Ich falle in Ohnmacht«, antwortete ich noch - und verlor auch schon
wieder das Bewußtsein. - George Henry Lewes, Tagebuch, nach: Der Rabe. Magazin für jede
Art von Literatur 25. Zürich 1989
Unterbrechung
(9) Einst hatte der
Fürst von Meng-tschang seine Gäste mit einem Nachtmahl bewirtet. Unter ihnen
war auch einer, der war darüber böse, weil er meinte, daß die für ihn aufgetragenen
Speisen nicht so gut seien wie die der anderen; so unterbrach er das Mahl und
ging hinaus. Da stand der Fürst auf und nahm sich selbst von den betreffenden
Speisen, um sie zu vergleichen. Vor Scham darüber schnitt sich dieser Gast die
Kehle durch. - Aus:
Die Goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden. München 1961
Unterbrechung
(10) Der Mensch, der
übrigens kein zu reines Gewissen hatte, glaubte, man wolle ihn arretiren, und
lief aus allen Kräften, was er laufen konnte, davon.
Sogleich befahl der König, daß man ihn zu ihm bringen sollte. Wie heißt du?
fragte er ihn, und weshalb bist du in unsere Staaten gekommen? — Mein Name ist
Osman, antwortete er, ich bin ein Gärtner von Profession, und ich bin hieher
gekommen, um zu pflanzen. — Holla, rief der König, man bringe mir die Tafel
Romla und die stählerne Feder und die Wahrheit wird bald ans Tageslicht kommen.
— Hierauf fieng Smaragdine an zu rechnen, hob den
Kopf in die Höhe, beobachtete einige Augenblicke lang ein Stillschweigen und
sagte dann, du lügst, häßlicher Kerl, dein Name ist Hirvan der Kurde, und du
bist ein Dieb von Profession, bekenne die Wahrheit, Elender, oder ich lasse
dir den Kopf abschlagen. — Sogleich veränderte der Mensch die Farbe, seine Zunge
stand ihm still, die Zähne klapperten und zulezt gestand er die Wahrheit. Der
König befahl hierauf, daß man ihn schinden, auf den Schindanger werfen, und
seine Haut aufhängen sollte, wie man es mit dem Christen gemacht habe. Nachdem
dieser Urtheilsspruch gefällt war, setzte man sich mit dem schönsten Appetit
wieder zur Tafel, und bewunderte die Weisheit und Gerechtigkeit des Königs.
- (
101
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Unterbrechung
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Unterbrechung
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(13) Alle Poesie
unterbricht den gewöhnlichen Zustand - das gemeine Leben, fast, wie der Schlummer,
um uns zu erneuern - und so unser Lebensgefühl immer rege zu erhalten.
Kranckheiten, Unfälle, sonderbare Begebenheiten, Reisen, Gesellschaften wircken
in einem gewissen Maas, auf eine ähnliche Weise. Leider ist das ganze Leben
der bisherigen Menschheit Wirkung unregelmäßiger, unvollkommner Poesie gewesen.
- Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [1798]
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