nterbrechung  Ich wollte, entweder mein Vater oder meine Mutter oder lieber alle beide — denn im Grunde war die eine so gut dazu verpflichtet wie der andere — hätten sich richtig überlegt, worauf sie hinauswollten, als sie mich zeugten. Hätten sie gehörig in Erwägung gezogen, was für ein wichtiges Geschäft sie verrichteten — daß es nicht nur die Hervorbringung eines vernünftigen Wesens beträfe, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und Mischung seines Körpers, vielleicht sein Genie, die gesamte Beschaffenheit seines Gemüts und, da sie kein Wort fürs Gegenteil anführen konnten, selbst das Wohl seines ganzes Hauses ihre Richtung von den Stimmungen und Neigungen, welche die beiden damals beherrschten, annähmen —, hätten sie alles dieses gehörig erwogen und danach gehandelt, ich bin fest überzeugt, ich würde eine ganz andere Figur in der Welt gemacht haben als diejenige, in der mich nun der Leser sehr wahrscheinlich sehen wird. Glauben Sie mir nur, liebe Leute, dies ist keine so unbedeutende Sache, wie wohl viele unter Ihnen denken mögen. Sie haben alle, wette ich, von den Lebensgeistern gehört, wie diese vom Vater dem Sohn eingeflößt werden usw. usw., und manches andere, was sich darauf bezieht. Nun gut, verlassen Sie sich auf mein Wort, daß neun Zehntel von eines Mannes Verstand oder Dummheit, alle seine Erfolge und Fehlschläge in der Welt von den Bewegungen dieser Lebensgeister, ihrer Tätigkeit und den verschiedenen Gängen und Bahnen abhängen, auf die man sie bringt, so daß es, wenn sie einmal auf die Beine gekommen sind, sehr wichtig ist, ob sie die richtige oder falsche Richtung einschlagen — sie rennen davon, was hast du, was kannst du, als ob jemand mit einer Peitsche hinterdrein wäre; und indem sie immer wieder dieselbe Bahn hin und her laufen, machen sie sich bald einen Pfad daraus, der so eben und gebahnt wird wie ein Gartenweg, von dem sie, wenn sie einmal daran gewöhnt sind, selbst der Satan nicht so leicht abbringen könnte.

„Hör, mein Lieber", sagte meine Mutter, „du hast doch nicht vergessen, die Uhr aufzuziehen?" — „Gott verzeih mir die Sünde!" rief mein Vater ziemlich verdrießlich, wobei er sich gleichwohl bemühte, die Stimme zu mäßigen. „Hat wohl jemals eine Frau, solange die Welt besteht, ihren Mann mit einer so einfältigen Querfrage unterbrochen?" - (shan)

Unterbrechung (2) Ich kenne einen Jungen namens Fayet, der mit dem verstorbenen Prinzen Heinrich von Bourbon in Essone ein lustiges Abenteuer erlebte. Dieser Junge, ein Schüler, fuhr in der Landkutsche in die Auvergne, wo er herstammte, um dort seine Ferien zu verbringen. Der Herr Prinz, gerade angekommen, wurde seiner ansichtig. Er rief.ihn zu sich und fragte, in welchem Kolleg er sei und in welcher Klasse, und führte ihn dabei unvermerkt in das Zimmer, in dem man den Tisch für ihn gedeckt hatte. Sie waren kaum eingetreten, als alle Bedienten sich zurückzogen. Das war ihre Aufgabe. Er befragte den Jungen weiter und erkundigte sich, ob er nicht ein paar Kameraden im Kolleg habe, daß man immer einen haben müsse, um sich gegenseitig zu kitzeln, und dabei steckte er ihm die Hand in die Hose und meinte: «Ihr versteht Euch wohl darauf, die Sackpfeife zu spielen» - er mochte höchstens fünfzehn Jahre alt sein. Er greift nach dem Schwengel des Schülers und sagt, da er ihn nicht im Stande findet: «Wie, Ihr seid ja gar nicht in Hitze.» - «Herr», antwortet ihm jene Unschuld, «es ist die Ehrerbietung, die mich daran hindert.» - «Ich bin schon heiß», gab der Biedermann zurück, ließ sich seinen Schwengel anpacken und lehrte jenen Novizen, mit der linken Hand zu wichsen und die Nieren mit der rechten zu reiben. Wie sie in solch hübscher Positur sich befanden, kam ich weiß nicht was für ein Schatzmeister und klopfte an die Tür. Er war hinter dem Herrn Prinzen hergeeilt, um ihn irgendein Papier von Wichtigkeit unterschreiben zu lassen. Da war er also gezwungen, innezuhalten, während er sich vielleicht im höchsten Kitzel befand. Das brachte ihn so in Wut, daß er jenen Mann behandelte wie einen Lumpen und ihn ohne das Gewünschte mit den Worten wegschickte: «Seht zu, Eure Zeit für die Unterzeichnung von Papieren besser zu wählen.»  - (tal)

Unterbrechung (3) Maigret klingelte zwei- oder dreimal. Beim zweitenmal hörte er drinnen ein Geräusch, aber es vergingen fünf Minuten, bis sich die Tür öffnete.

»Bin ich hier bei Ducrau?«

»Ja. Kommen Sie herein.«

Das Mädchen war vor Aufregung rot, und Maigret lächelte, als er sie anblickte, ohne eigentlich zu wissen, warum. Es war ein dickes, appetitliches Mädchen, besonders wenn man sie von hinten sah, denn ihr grobes Gesicht mit den harten und unregelmäßigen Zügen enttäuschte.

»Wen darf ich melden?«

»Ich bin von der Kriminalpolizei.«

Sie machte zwei Schritte auf die Tür zu und mußte sich bücken, um ihren Strumpf hochzuziehen. Dann machte sie zwei weitere, glaubte sich durch den Türflügel verdeckt, befestigte ihren Strumpfhalter und zupfte an ihrem Unterrodc, was Maigret noch mehr zum Lächeln reizte. In dem Zimmer wurde geflüstert, und dann erschien das Mädchen wieder.

»Treten Sie bitte näher.«

Es lag nicht nur an der Sonne, daß Maigret dieses Lächeln aufsetzte. Es kam aus seinem tiefsten Inneren und verbreitete sich über sein ganzes Gesicht. Schon vor der Tür und in der Diele hatte er geahnt, was vor sich gegangen war. Und jetzt war er dessen sicher, während er sagte:

»Monsieur Ducrau?«

Seine Augen lachten. Sein Mund verzog sich unwillkürlich zu einer Grimasse, und von diesem Augenblick an war es, als brauchten sich die beiden Männer nichts mehr vorzumachen. Ducrau sah das Mädchen an, dann den Besucher und schließlich seinen mit rotem Samt bezogenen Sessel. Darauf strich er sich übers Haar, das sowieso glatt saß, und lächelte ebenfalls, ein geschmeicheltes, ein wenig verlegenes, aber dennoch zufriedenes Lächeln. - Georges Simenon, Maigret in Nöten. München 1974 (Heyne Simenon-Kriminalromane 45, zuerst 1933)

Unterbrechung (4) Trottel, wie wir sind, haben wir vergessen, die Haustür abzuschließen. So stürmen die Bullen morgens kurz nach fünf in das Zimmer, wo Anne gerade die Beine breit macht, während ich schweißgebadet mit meinem dritten Bein auf sie einrammle.

Die Rindviecher grinsen sich einen und machen obszöne Witze, als mir vor Schreck der Pimmel rausrutscht. Die Erniedrigung macht mich rasend. Sie wissen nicht, daß ich mir bei Milano eine Waffe besorgt habe. Ich stürme los. Die Rammelei muß mir die Optik verschoben haben, denn wie eine Rakete zische ich zwischen den Bullen durch in den Garten hinaus, splitternackt, bloß mit meiner dunklen Brille und Milanos Knarre, einer 7.65 von Manufrance. Mit der Knarre zwischen den Zähnen versuche ich, wie eine Katze das Gitter hochzuspringen. Ich höre Anne schreien. Bullen stolpern durch die dünnen Sträucher. Ich stürze ab und schürfe mir den Ellbogen auf. Ich drehe mich um und feure blind vier Schüsse ab, die niemanden treffen. Die Polypen packen und entwaffnen mich. Es tut weh, als mir einer der Bullen auf seinem Knie das Handgelenk bricht. Die anderen verpassen mir Fußtritte ins Gesicht und in den Unterleib. Meine Nase ist gebrochen. Blut strömt über mein Gesicht. Ein Stiefeltritt in die Eier tut wahnsinnig weh, ich habe furchtbare Angst, kastriert zu sein; dann falle ich in Ohnmacht.

Ich bekomme zehn Jahre. Man soll nie so tun, als wolle man auf die Polizei schießen.  - Jean-Patrick Manchette, Rette deine Haut, Killer. Bergisch Gladbach 1990 (zuerst 1971)

Unterbrechung (5)  Die Epilepsie ist der kleine Tod und die Piknolepsie der ganz kleine. Lebendiges und Bewußtes, Hier und Jetzt gibt es nur, weil es unendlich viele kleine Tode, kleine Unfälle, kleine Risse gibt und, wie William Burroughs sagen würde: kleine cut-ups der Tonspur - der Ton- und Bildspur der Erfahrung. Und wenn man Gesellschaft, Stadt und Politik analysieren will, so ist das, glaube ich, sehr aufschlußreich. Unser Sehen ist stets eine Montage, eine Montage von Zeitlichkeiten.  - Paul Virilio, nach: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. Karlheinz Barck u.a. Leipzig 1991

Unterbrechung (6)   ich sehe sie schon die burschen auf dem aeropuerto vom maracaibo ganz in weiß mit pechschwarzen puros zwischen den gesunden zahnen mestizen wohnen auf kaffeebohnen mulatten auf der reeperbahn wie brecht so schön sang als die welt noch arbeitslos und heil war und in weißen händen ah jetzt erinnere ich mich wieder an meinen bildschönen doch leider abgeschnittenen traum ich hatte von einem weißen mädchen geträumt das zusammen mit einer schwarzen ein gelbes vergewaltigte und ich saß dabei auf einem sofa mit einer kaffeebraunen auf dem knie sozusagen als voyeur und dann schrillte wie gesagt das dreckstelefon und dieser unbekannte trottel kam mir mit seiner vertreterbesprechung und das soll ich ihm verzeihen niemals weder im leben noch im traum was wenn ich seelisch labiler wäre und durch diesen herben schock heftig erkrankte ich würde möglicherweise ohne bei einer krankenkasse versichert zu sein dem alkohol verfallen meine frau müßte servieren gehen um unseren lebensunterhalt zu bestreiten meine liebe kleine tochter in einer gasthausküche geschirrspülen um etwas dazu zu verdienen ein alptraum meine freunde ein nachtmahr in schlatzgrün ein laubfrosch in einer sachertorte ein fußpilz in seidensocken ach schwamm darüber meine psychische stärke ist meine psychische stärke ich habe sie mir während zahlreicher opernbesuche angeeignet   - H.C. Artmann, Nachrichten aus Nord und Süd. München 1981 (dtv 6317, zuerst 1978)

Unterbrechung (7)  Das Ehepaar lebte in London. Unter dem Vorwand, eine Reise zu machen, mietete sich der Mann nur eine Straße von seinem eigenen Haus entfernt eine Wohnung und blieb dort über zwanzig Jahre, ohne daß seine Frau oder seine Freunde von ihm hörten und ohne den Schatten eines Grundes für eine solche Selbstverbannung. Während dieser Zeit kam ihm nicht nur sein Heim jeden Tag vor Augen, sondern auch häufig die verlassene Mrs. Wakefield. Und nach einer derartigen Unterbrechung seines ehelichen Glücks — als sein Tod bereits für gewiß galt, sein Nachlaß geordnet, sein Name der Erinnerung entschwunden war und seine Frau sich seit langer, langer Zeit in ihren herbstlichen Witwenstand gefunden hatte — trat er eines Abends in die Tür, gleichmütig, als wäre er nur einen Tag fortgewesen, und wurde bis zu seinem Tod ein liebender Gatte. - Nathaniel Hawthorne, Wakefield. In: N.H., Das große Steingesicht. Stuttgart 1983 (Bibliothek von Babel 9, Hg. Jorge Luis Borges)

Unterbrechung (8) Am Mittwoch nach meinem Verdauungsschlaf ging ich hinauf in mein Ankleidezimmer. Dabei fühlte ich mich nicht anders als sonst. Plötzlich jedoch, ohne das geringste Vorzeichen,  sank ich in Ohnmacht. Ich muß wohl bewußtlos gefallen und dann durch den Aufprall für einen Moment wieder zur Besinnung gekommen sein, denn mein Fall, bei dem ich gegen die Badewanne schlug, machte einen fürchterlich dröhnenden Lärm, der Polly aufschreckte und sie ausrufen ließ: Was ich da eigentlich triebe? - »Ich falle in Ohnmacht«, antwortete ich noch - und verlor auch schon wieder das Bewußtsein. - George Henry Lewes, Tagebuch, nach: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur 25. Zürich 1989

Unterbrechung (9)  Einst hatte der Fürst von Meng-tschang seine Gäste mit einem Nachtmahl bewirtet. Unter ihnen war auch einer, der war darüber böse, weil er meinte, daß die für ihn aufgetragenen Speisen nicht so gut seien wie die der anderen; so unterbrach er das Mahl und ging hinaus. Da stand der Fürst auf und nahm sich selbst von den betreffenden Speisen, um sie zu vergleichen. Vor Scham darüber schnitt sich dieser Gast die Kehle durch.  - Aus: Die Goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden. München 1961

Unterbrechung (10)  Der Mensch, der übrigens kein zu reines Gewissen hatte, glaubte, man wolle ihn arretiren, und lief aus allen Kräften, was er laufen konnte, davon. Sogleich befahl der König, daß man ihn zu ihm bringen sollte. Wie heißt du? fragte er ihn, und weshalb bist du in unsere Staaten gekommen? — Mein Name ist Osman, antwortete er, ich bin ein Gärtner von Profession, und ich bin hieher gekommen, um zu pflanzen. — Holla, rief der König, man bringe mir die Tafel Romla und die stählerne Feder und die Wahrheit wird bald ans Tageslicht kommen. — Hierauf fieng Smaragdine an zu rechnen, hob den Kopf in die Höhe, beobachtete einige Augenblicke lang ein Stillschweigen und sagte dann, du lügst, häßlicher Kerl, dein Name ist Hirvan der Kurde, und du bist ein Dieb von Profession, bekenne die Wahrheit, Elender, oder ich lasse dir den Kopf abschlagen. — Sogleich veränderte der Mensch die Farbe, seine Zunge stand ihm still, die Zähne klapperten und zulezt gestand er die Wahrheit. Der König befahl hierauf, daß man ihn schinden, auf den Schindanger werfen, und seine Haut aufhängen sollte, wie man es mit dem Christen gemacht habe. Nachdem dieser Urtheilsspruch gefällt war, setzte man sich mit dem schönsten Appetit wieder zur Tafel, und bewunderte die Weisheit und Gerechtigkeit des Königs.  - (101)

Unterbrechung (11)

Unterbrechung (12)

- N. N.

Unterbrechung (13)  Alle Poesie unterbricht den gewöhnlichen Zustand - das gemeine Leben, fast, wie der Schlummer, um uns zu erneuern - und so unser Lebensgefühl immer rege zu erhalten.

Kranckheiten, Unfälle, sonderbare Begebenheiten, Reisen, Gesellschaften wircken in einem gewissen Maas, auf eine ähnliche Weise. Leider ist das ganze Leben der bisherigen Menschheit Wirkung unregelmäßiger, unvollkommner Poesie gewesen.  - Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [1798]

Stetigkeit Störung Bruch

 

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