Unmittelbarkeit    Ich erinnere mich an viele Leute in der Vergangenheit, Jungen und Mädchen, schlechte Schüler, Verräter mit schmutzigen Gedanken und Fingern, und ich vermisse sie sehr. Wenn eine alte Frau mir von ihrer Tochter erzählt, daß sie jetzt mit einem Kampfrichter vom Garden City-Stadion glücklich verheiratet sei und zwei prächtige Söhne habe, könnte ich vor Freude jubeln. Ich bin glücklich. Das stimuliert mich. Sie lebt also noch. Warum empfinde ich so etwas? Ihretwegen bin ich beinahe von der Schule geflogen. Ihretwegen habe ich fast meine Jugend ruiniert.

Aber eben nur fast. Ich habe sie gern, so beschränkt und widerwärtig sie auch gewesen sein mag; ebenso geht es mir bei einigen anderen wirklich bösartigen Kindern, die den Ruf der ganzen Klasse verdorben haben - die meisten sind längst an ihren Exzessen gestorben. Sie schmeicheln meiner Erinnerung. Genau das ist es, wohinter ich her bin. Was damals war, was ich nicht recht benennen kann. Mein Schreiben, die Notwendigkeit fortgesetzter Geltendmachung, das Bedürfnis, immer weiterzumachen, all das verbietet mir aufzuhören. Bis zum heutigen Tage bin ich auf der Jagd danach - aber nicht in den Akademien, nicht mit dem Ziel, entlegene und komplizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben.

Diese Leute hatten weder Kenntnisse noch Fähigkeiten. Sie blieben sitzen, kamen ins Gefängnis, ließen sich schwängern, und falls sie überlebten, verloren sie ihre Vollkommenheiten.

Wieder so ein Wort: ihre Vollkommenheiten. Sie waren vollkommen; als sie auf die Welt kamen, schienen sie vollkommen zu sein und nichts zu brauchen. Sie waren da, sie lebten vor meinen Augen, und ich lebte neben ihnen und mit ihnen. Mit ihrem bloßen Dasein leugneten sie die Notwendigkeit, sie zu «studieren«, das heißt, durch langwierige Beobachtung Aufschlüsse über sie zu erhalten. Sie waren, einfach durch ihr Leben, das Thema, das aufzuklären ich mich mein Leben lang bemüht habe, und wenn ich keine Klarheit über sie gewinnen konnte, habe ich versucht, sie schriftlich zu fixieren, sie aufs Papier zu bannen: denn auch daraus kann man Erkenntnisse ziehen.

Nicht ihre Missetaten faszinierten mich, nicht die Tatsache, daß sie »böse« Jungen und Mädchen waren. Ganz und gar nicht. Sondern daß sie absolut vollkommen waren, ausgestattet mit vollendeter Kühnheit und weitestreichenden Chancen.

Ich schrieb weiter, lebte so gut ich konnte, führte in Gedanken ein geheimes Leben, von dem ich offen erzählen wollte - wenn es mir nur möglich wäre -, wie es jetzt und immerdar heimlich um uns existiert, und dieses Unmittelbare, die Geschichte, die Anatomie dieses Gegenstandes, der keiner Chirurgie, Klempnerei oder sonstigen Heilmethode unterworfen werden kann, wollte ich erzählen. Warum, weiß ich nicht. Wozu erzählen, was niemand hören will? Aber dann, wenn es mir zufällig gelang, etwas aus dieser geheimen vollkommenen Welt zu porträtieren, stellte ich fest, daß man mir doch zuhören wollte. Und den Zugang zu diesen geheimen Gärten des Ich verschaffte mir die »Medizin«. Es gab im Ich noch eine andere Welt zu entdecken. Mein ärztlicher Ausweis erlaubte mir, dem armen besiegten Körper in diese Klüfte und Grotten zu folgen. Und das Erstaunliche ist, daß zu solchen Zeiten und an solchen Orten - sosehr auch die ischiorektalen Abszesse unserer Aktivitäten stinken mögen -, eben dort dieses Ding in all seiner größten Schönheit sich kurz freimachen kann, um für einen Augenblick schuldbewußt im Zimmer umherzufliegen. Dort, wenn ich in meiner Eigenschaft als Arzt bei Krankheit, Tod und Geburt, bei den qualvollen Schlachten zwischen Tochter und diabolischer Mutter, zerrüttet von einem ruinierten Hirn, anwesend sein durfte, genau dort ist dieses Ding - für den Bruchteil einer Sekunde -von der einen oder anderen Seite vor mir herumgeflattert, ein Wort, ein Satz, den ich sofort auf das nächste erreichbare Stück Papier niederschreiben muß.

Dieses Ding ist identifizierbar, und sein Merkmal, sein Hauptmerkmal ist, daß es real ist, aus einem Guß und, wie gesagt, unmittelbar und vollkommen: es kommt, es ist da, und es verschwindet. Aber ich habe es deutlich gesehen. Ich habe es gesehen. Ich kenne es, denn es ist da. Ich war davon besessen, wie ich schon in der fünften Klasse davon besessen war - als sie sich über die Lehne der Sitzbank vor mir beugte und mich mit obszönen Ausdrücken begrüßte, die ich hier nicht wiedergeben kann, auch wenn sie vor vierzig Jahren ans dem Mund eines Kindes kamen, denn niemand würde oder könnte verstehen, was ich damit meine, wenn ich sage, daß ich es damals gesehen habe.  - (wcwa)

Unmittelbarkeit (2)   Den Himmel auf ebener Erde zu finden, einem Augenblick, den man in voller Bewußtheit erlebt hat, den Wert der Unvergänglichkeit zuzusprechen, das sind die Freuden, die der moderne Dämon der Verneinung demjenigen gönnt, der Windmühlen nicht für Riesen hält und nur mehr auf das Gegenwärtige zählt- auf das Direkte, Unmittelbare, die Dinge ohne Erwartung und ohne Erinnerung - und nur in dem Erfüllung zu finden vermag, was ihm ohne jeden Kalkül und unvorherberechnet das blitzartige Gefühl seiner Präsenz vermittelt, nicht die Präsenz von irgendetwas, was für gewöhnlich nicht wahrnehmbarwäre und sich plötzlich in der Erscheinung offenbart, sondern die Präsenz eben dieser Erscheinung selbst, die nichts anderes nötig hat als ihren eigenen Glanz, um zu blenden. Ich glaube nicht, daß es heißt, in eitles Wortgeplänkel zu verfallen, wenn man von einer »diabolischen Schönheit« spricht in bezug auf jene Ausschnitte von Gegenwart, die als atemberaubende Augenblicke nicht nur die Präsenz selber sind - makelloser Zauber, Pulsieren des Hier und Jetzt - sondern uns umso stärker berühren, als wir um die Unmöglichkeit ihrer Dauer wissen. Im übrigen genügt es, um zu vermuten, der Teufel zeige da die Spitze seines Horns, an das Paradox, ja an die Sünde zu denken, die - ein Strohfeuer, das aber als solches nicht minder heftig lodert - unsere jeweilige Wertschätzung dieser Art von Geschenken darstellt: zu wissen, daß sie sich fast so schnell verflüchtigen, wie sie uns zuteil geworden sind, und ihnen trotzdem eine Vorrangstellung einzuräumen, zeigt sich darin nicht eine sträfliche Anfälligkeit für die Nichtigkeit des Ephemeren, wie tief und edel auch immer uns unser Gefühl unmittelbar dann vorgekommen sein mag, als jene seltenen und völlig unverdienten Glücksfälle sich ereigneten?  - (leiris2)

Unmittelbarkeit (3)   Epikur also behauptet durchweg, Kriterien der Wahrheit seien die Wahrnehmungen, Begriffe und Affekte, die Epikureer fügen dann noch die Vorstellungen der Einbildungskraft hinzu. Er spricht sich darüber auch in der „Kurzen Übersicht an Herodot" und in den „Hauptlehren" aus. „Denn," heißt es da, „jede Wahrnehmung gilt rein für sich und hängt nicht ab von Verstand und Gedächtnis; denn sie wird weder durch sich selbst bewegt, noch kann sie, von etwas anderem bewegt, irgend etwas hinzusetzen ,oder wegnehmen. Auch gibt es nichts, was sie widerlegen könnte; denn es kann weder eine gleichartige Wahrnehmung eine gleichartige widerlegen, denn die eine hat ja denselben Wert wie die andere, noch die ungleichartige die ungleichartige, denn der Gegenstand ihrer Beurteilung ist ja ein verschiedener; ebensowenig der Verstand, denn der Verstand hängt durchweg von den Sinneswahrnehmungen ab; überhaupt kann keine die andere widerlegen, denn unsere Aufmerksamkeit ist auf alle in gleicher Weise gerichtet. Und der tatsächliche Bestand des unmittelbaren Wahrnehmungsgefühls bürgt auch für die Wahrheit der Wahrnehmungen. Nun hat aber unser Sehen und Hören ebenso wie die Empfindung des Schmerzes tatsächlichen Bestand. Daher muß man auch von dem Sichtbaren ausgehen, um sich das Unsichtbare zu deuten. Hat doch auch unsere ganze Gedankenwelt ihren Ursprung in den Wahrnehmungen, deren mannigfache Umstände, Analogie- und Ähnlichkeitsverhältnisse sowie Zusammensetzung für sie bestimmend sind, wobei allerdings auch die Überlegung als mitwirkend auftritt. Und was die Vorstellungen der Wahnsinnigen sowie die Traumerscheinungen anlangt, so sind auch sie wahr, denn sie haben wirkende Kraft; das Nichtseiende dagegen hat keine wirkende Kraft."

Was aber ihre sogenannte Prolepsis (Vorherbestimmung = Begriff) betrifft, so ist sie gleichsam ein geistiges Ergreifen des Wirklichen oder wahre Meinung oder Gedanke oder allgemeine in uns liegende Vorstellung.  - Epikur, nach (diol)

Ursprünglichkeit Wahrnehmungsvermögen

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