ngeborene  Die Ungeborenen, eine Gattung, die diesseits des Lebens steht, wie die andere der ersten Kategorie jenseits des Lebens steht, können wohl gerettet werden, sich aber niemals selber retten. Doch ist natürlich jede Rettungsweise eine äußerst fragliche und in der Mehrzahl der Fälle zum Mißerfolg bestimmt. Ich will mich hier nicht unterfangen, allzuviel Okkultes preiszugeben und beschränke mich also darauf, nur eine dieser Möglichkeiten aufzuzeigen. Gerettet werden jene, wenn es ihnen gelingen sollte, die Aufmerksamkeit eines großen Dichters oder Musikers oder Malers oder was weiß ich wessen sonst noch, also eines von solchen Beauftragten des Allerhöchsten zu wecken. Nur denen ist es in der Tat gegeben, die Unglückseligen in den Kreis des Lebens zu holen und sie nun durch die Welt ziehen zu lassen. Selbstverständlich müssen die Unglückseligen selber darauf achten, wem sie sich anvertrauen, genügt es doch wahrhaftig nicht, ein Dichter oder Musiker oder Maler zu sein, um Leben verleihen zu können, noch sind alle so Qualifizierten Gottes Gehilfen. Aber das ist nun auch nur so dahingesagt. Sind doch die Unglückseligen am Ende gar nicht so frei, sich den für sie passenden Menschen auszusuchen; auch hier spielt der Zufall eine nicht unbedeutende Rolle, auch hier ist es, kurzum, eine Glückssache.

Sei's. Aber nun bin ich endlich dort angelangt, wohin ich wollte. Schön, man kann sich irren, aber warum auf einem Irrtum bestehen? Und doch tun dies einige unserer Brüder aus der Dämmerung und versteifen sich auch noch unverständlicherweise darauf.

Einige dieser Geister quälen mich schon lange. Sie haben nicht begriffen und wollen nicht begreifen, daß ich selbst ja fast einer der ihren bin, daß ich die Schwelle gerade um ein weniges überschritten habe und keinen Schritt weiterkomme; daß ich es nicht verstehe, das Leben einzurichten, weder für die anderen und schon gar nicht für mich selbst, daß ich es nicht kann. Aber vielleicht haben sie's auch begriffen und haben nur sonst niemanden in greifbarer Nähe. Oder sie gehören zu den Geistern, die von den großen Dichtern nicht gesehen werden.

Sie verlangen ihr Schicksal von mir, der ich ja das meine gar nicht kenne. Es sei mir gestattet, sie dem Leser vorzustellen und öffentlich von allen meinen fruchtlosen Bemühungen zu berichten, sie zufriedenzustellen. Wenn sie um mich herumgeistern, krampft sich mir das Herz wie unter namenlosen Gewissensbissen, wie unter einer untilgbaren Schuld zusammen. Weshalb nur? Vielleicht habe ich nicht genug getan. Aber ich sehe nicht, was ich sonst noch tun könnte. Sagt ihr doch euer Urteil, vielleicht werden sich dann im Verlauf des Gesprächs diese schrecklichen Gewissensbisse legen.

Ich habe ihnen sogar einen Namen gegeben. Aber möglicherweise leiden sie gerade darunter: unter der Tatsache, daß ich versucht habe, sie zum Leben zu bringen. Und nun sind sie an mich gefesselt und können sich nicht anderen zuwenden, sind Sklaven des Namens, den ich ihnen verliehen habe, des Zuwenig, das ich ihnen gegeben habe. Ihr Lebensversuch ist nun an meinen Schöpfungsversuch gebunden; sie sind nicht einmal mehr Umherirrende. Doch ich kann nicht mehr weitermachen, sollen sie das doch begreifen!  Sie verfolgen mich.  - N.N.: Der Brunnen des Hl. Patrizius, nach (land2)

Ungeborene (2)  Mit Recht weist Laudomia einen ebenso ausgedehnten Aufenthaltsort auch denen zu, die erst noch geboren werden müssen; freilich steht der Platz in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl, die auf unendlich geschätzt wird, aber da es sich um einen leeren Ort handelt von einer Architektur nur aus Nischen und Einbuchtungen und Rillen umschlossen, und da man den Ungeborenen eine beliebige Dimension geben, sie sich groß wie Mäuse oder Seidenraupen oder Ameisen oder Ameiseneier denken kann, gibt es keinen Hinderungsgrund, sie sich aufrecht oder kauernd auf jedem Gegenstand oder Sims, der aus den Wänden hervorsteht, auf jedem Kapitell oder Sockel aufgereiht oder vereinzelt vorzustellen, in die Aufgaben ihrer künftigen Leben versunken und in einer Vertiefung des Marmors das ganze Laudomia auf hundert oder tausend Jahre hinaus betrachtend, das angefüllt ist mit Menschenmengen in nie gesehenen Aufmachungen, beispielsweise alle in auberginefar-benem Barrakan oder alle mit Truthahnfedern am Turban, und darin die eigenen Nachkommen und die der verbündeten und verfeindeten Geschlechter, der Schuldner und Gläubiger erkennend, wie sie kommen und gehen, Handel und Wandel, Racheakte, Verlobungen aus Liebe oder Berechnung verewigen. Die Lebenden Laudomias besuchen die Wohnung der Ungeborenen und befragen sie; die Schritte hallen in den leeren Gewölben; die Fragen werden stumm formuliert; und immer nach sich selbst fragen die Lebenden und nicht nach denen, die kommen werden; der eine sorgt sich, ein hehres Andenken seiner selbst zu hinterlassen, ein anderer, seinen Schimpf vergessen zu machen; alle möchten sie den Faden ihrer Handlungen bis in die Konsequenzen hinein verfolgen; doch je angestrengter sie hinsehen, um so weniger können sie eine kontinuierliche Spur erkennen; Laudomias erst noch geboren Werdende haben ein punktförmiges Aussehen wie Staubkörnchen, sind getrennt vom Vorher und vom Nachher. - Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte. München 1977 (zuerst 1972)
 
 

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