Unfertigkeit  Ja, da sind noch meine beiden Schwestern. Die eine ist klein und blond. Keine von beiden sieht ganz echt aus. Die ältere ist gleichfalls klein, aber brünett. Beiden haftet etwas Unfertiges an, etwas allzu Subtiles, als wären sie aus dem Geschlecht der Wolken oder Chimären. Ihre Arme sind Zwerginnenarme, und ihre Hände Riesinnenhände, mager, durchscheinend. Ihre Brust ist zu schmal für ihren Kopf und ihre Füße zu breit für ihre Beine, das Ganze aber wirkt so erstaunlich, daß sie ergreifender sind als die Schönheit, eine Art Prinzessinnen, die den Schleier genommen oder aus dem Grabe auferstanden wären, eine Art Heilige. Sicher sind sie Prinzessinnen, und sonst gibt es auch nichts Edles bei uns außer ihnen beiden. Ihr Reich ist unerforschlich. Man weiß nicht, welchem Jahrhundert sie angehören. Ihr Reich ist eine große Traurigkeit, die mit lauter Sanftmut ausgeschlagen ist; ihr Jahrhundert ein längstvergangenes des Gebetes und der Geduld. Ihr Zimmer ist eine schweigsame Insel, und der rote Bettvorhang neben der Türe, wo sie den ganzen Tag sich aufhalten, gleicht ein wenig dem Segel einer Galeere, auf der sie sich einschiffen werden, um die Ungläubigen zu bekehren. Sie haben Gesichter wie Märtyrerinnen.   - Marcel Jouhandeau, Das Tagebuch des Friseurs. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
 
 

Fertig

 

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