Nur das Formlose bleibt von allem unberührt. Die Weisen verbergen sich in
ihrer Unergründlichkeit, so daß ihre Gefühle sich jeder Beobachtung entziehen;
sie wirken im Formlosen, so daß nichts ihre Linien kreuzen kann. - »DAS BUCH
DER HÜAINAN-MEISTER«, CHINA, 2. JAHRHUNDERT V. CHR. - Aus (
macht
)
Unergründlichkeit (2) Es gibt noch eine andere Tatsache, die das Wunder des Traums, in dem Kubla Khan hervorgebracht wurde, bis ins Unergründliche erweitert. Wenn diese Tatsache zutrifft, dann ist die Geschichte vom Traum Coleridges um Jahrhunderte älter als Coleridge und hat ihr Ende noch nicht erreicht.
Der Dichter träumte im Jahr 1797 (andere sagen im Jahr 1798) und veröffentlichte die Mitteilung seines Traums im Jahr 1816 nach Art einer Glosse oder Rechtfertigung des nicht abgeschlossenen Gedichts. Zwanzig Jahre danach erschien in Paris bruchstückhaft die erste abendländische Fassung einer jener Universalgeschichten, an denen die persische Literatur so reich ist: die Geschichtensammlung von Rashid-ed-Din, die aus dem 14. Jahrhundert stammt. Auf einer Seite lesen wir: »Im Osten von Shang-tu errichtete Kublai Khan einen Palast nach einem Plan, den er in einem Traum geschaut und im Gedächtnis behalten hatte.« Der das schrieb, war der Wesir Ghazan Mahmuds, eines Nachkommen Kublais.
Ein mongolischer Kaiser träumt im 14. Jahrhundert einen Palast und erbaut ihn nach dem Vorbild seiner Schau; im achtzehnten Jahrhundert träumt ein englischer Dichter, der nicht wissen konnte, daß dieses Bauwerk sich aus einem Traum herleitete, ein Gedicht über den Palast. Verglichen mit dieser Symmetrie, die mit den Seelen schlafender Menschen arbeitet und Kontinente und Jahrhunderte umfaßt, fallen, will mir scheinen, nicht oder kaum ins Gewicht die Levitationen, Auferstehungen und Erscheinungen der Erbauungsbücher.
Welcher Erklärung sollen wir den Vorzug geben? Diejenigen, die das Übernatürliche von vornherein ausschließen (ich bemühe mich stets, diesem Gremium anzugehören), werden behaupten, die Geschichte von den beiden Träumen sei ein Zusammentreffen, eine vom Zufall entworfene Zeichnung, so wie die Umrisse von Löwe oder Pferd, die manchmal die Wolken an den Himmel zeichnen. Andere werden argumentieren, daß der Dichter auf irgendeine Art von dem Palasttraum des Kaisers Kunde hatte, und daß seine Behauptung, er habe das Gedicht geträumt, ein glänzender Einfall gewesen sei, darauf berechnet, die verstümmelte und rhapsodische Formung der Verse abzumildern oder zu rechtfertigen. Diese Vermutung hat manches für sich, doch nötigt sie uns, ganz willkürlich einen Text zu postulieren, der von den Sinologen bisher nicht festgestellt worden ist, in dem Coleridge vor 1816 den Traum von Kublai zu lesen vermochte. Verlockender sind die Hypothesen, die über das Rationale hinausgehen. So könnte man beispielsweise annehmen, daß die Seele des Kaisers, nachdem der Palast zerstört war, in die Seele Coleridges hinübertrat, damit dieser ihn in Worten, dauerhafter als Marmor und Metalle, wiederaufbaue.
Der erste Traum fügte der Wirklichkeit einen Palast hinzu; der zweite, der
sich fünf Jahrhunderte später ereignete, ein Gedicht (oder den Anfang eines
Gedichts), das von dem Palast angeregt war. Die Ähnlichkeit der Träume deutet
auf einen Plan; die ungeheure Zeitspanne verrät einen übermenschlichen Urheber.
Das Vorhaben dieses Unsterblichen oder Langlebigen ergründen zu wollen, wäre
wohl nicht weniger vermessen als vergeblich, doch steht uns frei zu vermuten,
daß er mit ihm nicht zu Ende kam. Im Jahr 1691 stellte der Pere Gerbillon von
der Gesellschaft Jesu an Ort und Stelle fest, daß von dem Palast des Kublai
Khan nur noch Trümmer übrig waren; von dem Gedicht wissen wir, daß knapp fünfzig
Verse gerettet werden konnten. Diese Tatsachen lassen die Vermutung zu, daß
die Folge der Träume und der Arbeiten ihr Ziel noch nicht erreicht hat. Dem
ersten Träumer wurde in der Nacht die Schau des Palastes geschenkt, und er erbaute
ihn; dem zweiten, der von dem Traum des Früheren nicht wußte, das Gedicht über
den Palast. Wenn es bei dem Schema bleibt, wird vielleicht irgendein Leser Kublai
Khans in einer Nacht, von der wir durch Jahrhunderte getrennt sind, einen Marmor
oder eine Musik träumen. Dieser Mensch wird von dem Traum der beiden anderen
nicht wissen. Vielleicht wird die Traumreihe nie zu Ende sein, vielleicht ist
der Schlüssel zu ihr im letzten Traum. - (
bo3
)
Unergründlichkeit (3) Sulla war ein Adliger aus
patrizischem Geschlecht, von einem durch Unfähigkeit der Vorfahren schon beinah
in Vergessenheit geratenen Zweig; in griechischer und lateinischer Literatur
kannte er sich wie die gebildetsten Leute aus; er war von unbändigem Ehrgeiz,
gierig nach Vergnügen, nach Ruhm freilich noch gieriger; er liebte Muße und
Wohlleben, dennoch hielt ihn von Geschäften nie das Vergnügen ab; nur seinen
Frauen gegenüber hätte er sich ehrenhafter benehmen dürfen; er war beredt, schlau
und doch schnell zu Freundschaft bereit, von unglaublicher Verstellungsgabe
und unergründlichem Wesen, Spender von vielen Dingen - vor allem von Geld.
Und obgleich vor dem Sieg im Bürgerkrieg der glücklichste von allen, ist er
dies doch stets weniger durch Zufall als aus eigenem
Verdienst gewesen, und viele zweifelten, ob er tüchtiger oder glücklicher sei;
was er später freilich machte, da weiß ich nicht recht, ob ich mich beim Erzählen
mehr schämen oder grämen soll. - Sallust, Krieg gegen Jugurtha
(zuerst ca. 40 v. u. Z.)
Unergründlichkeit (3) Der Kluge verhüte, daß man
sein Wissen und sein Können bis auf den Grund ermesse, wenn er von Allen verehrt
seyn will. Er lasse zu, daß man ihn kenne, aber nicht daß man ihn ergründe.
Keiner muß die Grenzen seiner Fähigkeiten auffinden können; wegen der augenscheinlichen
Gefahr einer Enttäuschung. Nie gebe er Gelegenheit,
daß Einer ihm ganz auf den Grund komme. Denn größre Verehrung erregt die Muthmaaßung
und der Zweifel über die Ausdehnung der Talente eines Jeden, als die genaue
Kundschaft davon, so große sie auch immer seyn mögen. - (
ora
)
Unergründlichkeit (4) "Unergründlich
verborgen, wie im Wasser des Fisches Weg, ist das Wesen der Weiber, der vielgewitzten
Räuberinnen, bei denen Wahrheit schwer zu finden ist, denen die Lüge ist wie
die Wahrheit und die Wahrheit wie die Lüge." "Wie sollen wir, Herr,
uns gegen ein Weib benehmen?" „Ihr sollt ihren Anblick vermeiden, Ananda".
„Wenn wir sie aber doch sehen, Herr, was sollen wir dann tun?". "Nicht
zu ihr reden, Ananda." "Wenn wir aber doch mit ihr reden, Herr, was
dann?" "Dann müßt ihr über Euch selbst wachsam sein, Ananda".
- Buddha, nach: Vorwort zu Jakob Sprenger, Heinrich Institoris,
Der Hexenhammer. München 1985 (dtv klassik, zuerst 1487)
Unergründlichkeit (5) Ein klassischer Fall von Unergründlichkeit war Filippo Maria, der letzte Visconti. Sein Herzogtum Mailand war eine Großmacht im Italien des 15. Jahrhunderts. Keiner kam ihm an Fähigkeit gleich, sein Innerstes zu verbergen. Nie sagte er offen, was er wollte, sondern verhüllte alles durch eine eigentümliche Art, sich auszudrücken. Wenn er jemand nicht mehr mochte, lobte er ihn weiter; hatte er jemand durch Ehren und Geschenke ausgezeichnet, so beschuldigte er ihn der Heftigkeit oder der Dummheit und ließ ihn fühlen, daß er seines Glückes nicht würdig sei. Wollte er jemand in seiner Umgebung haben, so zog er ihn für lange an sich heran, machte ihm Hoffnungen und ließ ihn dann fallen. Wenn der Betreffende dann glaubte, vergessen zu sein, rief er ihn zu sich zurück. Verlieh er Leuten, die sich um ihn verdient gemacht hatten, eine Gnade, so befragte er in merkwürdiger Verschlagenheit andere, als wüßte er nichts von der gewährten Wohltat. In der Regel gab er etwas anderes als das Erbetene, und immer auf andere Weise, als erwünscht war. Wollte er jemand ein Geschenk oder eine Ehrung zukommen lassen, so pflegte er ihn viele Tage zuvor über die gleichgültigsten Dinge zu befragen, so daß jener seine Absicht nicht zu erraten vermochte. Ja, um seine innerste Absicht niemandem zu offenbaren, beklagte er sich oft über die Verleihungen von Gnaden, die er selbst gespendet, oder auch über die Vollstreckung von Todesstrafen, die er selbst verfügt.
In diesem letzten Falle wirkt er so, als suche er seine Geheimnisse
sogar vor sich selbst zu haben. - (
cane
)
Unergründlichkeit (6) Unsere Persönlichkeit sollte unergründbar sein, auch für uns selbst. Träumen wir also und beziehen uns ein in unsere Träume, damit wir uns keine Meinung über uns selbst bilden können.
Insbesondere aber sollten wir unsere Persönlichkeit vor einer Inbesitznahme durch andere schützen. Jedes fremde Interesse an uns ist eine beispiellose Taktlosigkeit. Wäre der banale Gruß »Wie geht es Ihnen?« für gewöhnlich nicht durch und durch unaufrichtig und hohl, wäre er unverzeihlich und geschmacklos.
Lieben heißt der Einsamkeit müde sein, mit anderen
Worten, Liebe ist Feigheit,
Verrat an uns selbst. (Somit ist es höchst wichtig, nicht zu lieben.) - Fernando Pessoa, Das Buch
der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 2003
Unergründlichkeit (7) An der Quelle beugte der trinkende Mann das Gesicht über die gebrochenen und mannigfachen Spiegelungen seines Trinkens. Als er sich erhob, sah er unter ihnen das zertrümmerte Widerbild von Popeyes Strohhut, obwohl er keinen Laut vernommen hatte.
Er sah einen Mann unter Mittelgröße, der ihn über die Quelle hin anblickte,
die Hände in den Rocktaschen, eine Zigarette schief über dem Kinn. Sein Anzug
war schwarz, der Rock knapp, hochtailliert. Seine Hosen waren einmal umgeschlagen
und klebten von Schmutz über schmutzverklebten Schuhen. Sein Gesicht hatte eine
sonderbare, blutlose Farbe, ganz als sehe man es in elektrischem Licht; vor
der sonnigen Stille, in seinem schief sitzenden Strohhut und mit den leicht
abgewinkelten Armen wirkte er böse unergründlich wie
gestanztes Konservenblech. - William Faulkner, Die Freistatt. Zürich 1981 (detebe Klassiker
20 802, zuerst 1931)
Unergründlichkeit (8) Es konnte eine gewisse positive,
wenn auch noch so geringe Originalität in ihm gefunden
werden, und gelegentlich bemerkte Ich, daß er selbständig
dachte und seiner eigenen Meinung Ausdruck verlieh, ein so seltenes Phänomen,
daß ich jederzeit zehn Meilen weit laufen will, um Zeuge davon zu sein; es bezog
sich auf die Reform vieler gesellschaftlicher Institutionen. Obgleich er dabei
stotterte und kaum imstande war, sich deutlieh auszudrücken, so hatte er doch
immer einen darstellbaren Gedanken im Hintergrund. Aber sein Denken war so primitiv
und dermaßen in das animalische Leben versunken, daß es, obgleich es mehr versprach
als das eines bloß gelehrten Menschen, doch selten zu etwas ausreifte, was wiedergegeben
werden könnte. Er erweckte in denen, welche ihn kannten, den Gedanken, daß es
in den niedrigsten Lebensstellungen geniale Menschen
gebe, welche, wie bescheiden und ungebildet sie auch sein mögen, immer ihre
eigene Ansicht haben oder vorgeben, überhaupt nichts zu verstehen - welche,
obwohl sie dunkel und trübe erscheinen, doch für so unergründlich tief gehalten
werden müssen wie einst der Waldenteich. - Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Zürich
1979 (zuerst 1854)
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