nabhängigkeit
Unabhängig sein war ihm alles, unabhängig von der Stadt,
von den Menschen, — auch von den eigenen Süchten. Noch im hohen,
Alter, in der Zeit des Gerichtsverfahrens gegen ihn, da er in
einem Krankenhaus interniert ist und ihm der Tabak ausgeht, schreibt
er, ‹dann höre ich auf zu rauchen, ich höre einfach auf. Das
habe ich schon dreimal getan, jedesmal für ein Jahr, genau nach
dem Datum, Ich will soweit Herr über mich sein, daß ich aufhören
kann. Gut. Aber ich fange wieder an, wozu ist dann das Ganze
nutze? Ich will soweit Herr über mich
sein, daß ich auch wieder anfangen kann›.
Auch dem Verfahren gegen ihn, den Untersuchungen, den willkürlichen
Entscheidungen, entzieht er sich ganz. In dem Altersheim, wo
er nach dem Krankenhaus untergebracht wird, erscheint der Doktor,
untersucht ihn zehn Minuten lang, fragt: ‹Möchten Sie gern nach
Hause?› Und Hamsun: ‹Ich will,
was die Polizei will. Ich habe jetzt keinen eigenen Willen›.
Einem solchen Mann kann man nichts anhaben, auch wenn man
ihn des Landesverrats anklagt. - (
bov
)
Unabhängigkeit
(2) Die Bozenerstr., in der ich seit 1938 wohne (verschafft
hat sie mir noch Erich Reiss durch eine Wohnungsfirma Kamnitzer, Bruder von
Ernst Kamnitzer, seligen Angedenkens - so schließen sich die Kreise) liegt dicht
am Bayerischen Platz, der völlig zerstört ist, überhaupt ist die ganze Gegend
garnicht mehr vorhanden, - kennen Sie die Gegend, erinnern Sie sich noch? Es
sind vier Zimmer, eines für meine Praxis, eines für die meiner Frau, ein gemeinsames
Wartezimmer und ein Hofzimmer, wo wir privat wohnen. Wenn mal jemand herkommt,
was Gott sei Dank selten der Fall ist, ist er entsetzt über dies Hinterzimmer
(parterre), wo im Hof die Wäsche des ganzen Hauses hängt und die Hühner gackern
(die nicht mal meine eigenen sind), aber mich stört das alles nicht, ich bin
völlig unabhängig von äußeren Dingen und finde jede Art von repräsentativem
und gesellschaftlichem Leben lächerlich und unerträglich. Meine eigentliche
Natur ist ja immer weiter das gänzliche Alleinsein. Zur Zeit ist meine Frau
für einige Wochen verreist, die Praxis ist totenstill, die Hausangestellte alt
und tüchtig, ich spreche tagelang kein Wort außer: bitte Pflaumenkompott und
abends Haferflocken, und dieser Zustand ist mein Glück. - Gottfried Benn
an Thea Sternheim, 12. August 1949. In: G.B., Das gezeichnete Ich. Briefe aus
den Jahren 1900-1956. München 1962 (dtv 89)
Unabhängigkeit
(3) Der Held der Richard-Stark-Romane ist
ein Einbrecher namens Parker. Parker ist ein unabhängiger
Arbeiter. (Wie Walter Matthau in dem hübschen kleinen Stark-Film von
Don Siegel Charley Varrick könnte er fast einen Overall
tragen, auf dessen Rücken man liest: Last of the independents.) Bei den
meisten seiner Abenteuer stellt Parker ein Team für einen Einbruch zusammen,
dieser Einbruch wird zügig ausgeführt, dann kommt es aufgrund des Fehlers einer
Person, die nicht die Qualitäten von Parker hat, zu einer Komplikation, und
daraus ergeben sich äußerst gewaltsame Verwicklungen, bevor Parker zu einem
neuen Abenteuer, zu einem neuen Coup aufbricht. Oft kommt er mit etwas Geld
davon. So verdient er -dank seiner guten Eigenschaften - seinen Lebensunterhalt.
Welche sind diese guten Eigenschaften? Gefühllosigkeit, Brutalität, Beharrlichkeit,
professionelles Können und Gewalt. Parker ist ein Wilder. Der subtile Westlake
(Stark) hat es nicht versäumt, den Charakter seiner Person zu nuancieren, welche
nicht völlig gefühllos etc. ist. Aber der raffinierte Stark (= Donald Westlake)
hat es noch weniger versäumt, diesen Charakter in groben Zügen zu kennzeichnen:
Parker hat Sehnen wie Drahtseile, er tötet eiskalt jeden, der ihn nervt, er
ist ein halber Analphabet, ein tierischer Ficker (aber keusch, wenn er einen
Coup plant). - Jean-Patrick Manchette, Chroniques. Essays
zum Roman noir. Heilbronn 2005 (DistelLiteraturVerlag, zuerst 1996)
Unabhängigkeit
(4) Sich nichts unterwerfen, keinem Menschen, keiner Liebe,
keiner Idee, jene distanzierte Unabhängigkeit wahren, die darin besteht, weder
an die Wahrheit zu glauben, falls es sie denn gäbe, noch an den Nutzen, sie
zu kennen - dies, scheint mir, ist die rechte Befindlichkeit für das geistige,
innere Leben von Menschen, die nicht gedankenlos leben können. Angehören bedeutet
Banalität. Ein Glaube, ein Ideal, eine Frau, eine Profession - all das heißt
Zelle und Fessel. Sein heißt frei sein. Selbst Ehrgeiz ist, sofern wir uns seiner
rühmen, Last und wir wären kaum auf ihn stolz, begriffen wir, daß er die Schnur
ist, an der man uns zieht. Nein: keinerlei Bindung,
auch nicht an uns selbst! Frei von uns selbst wie von anderen, kontemplativ
ohne Ekstase, Denker ohne Schlußfolgerung und befreit von Gott werden wir auf
dem Gefängnishof jene wenigen Augenblicke der Verzückung erleben, die uns die
Unachtsamkeit unserer Henker zugesteht. -
Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich
2003
Unabhängigkeit
(5) Einige Bedingungen, unter denen der philosophische
Genius in unserer Zeit trotz der schädlichen Gegenwirkungen wenigstens entstehen
kann: freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntnis, keine
gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben,
keine Beziehung zum Staate — kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe
wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen
aufwachsen durften. Wer es ihm vorwerfen will, was Niebuhr dem Plato
vorwarf, daß er ein schlechter Bürger gewesen sei, soll es tun und nur selber
ein guter Bürger sein: so wird er im Rechte sein und Plato ebenfalls. Ein anderer
wird jene große Freiheit als Überhebung deuten: auch er hat recht, weil er selber
mit jener Freiheit nichts Rechtes anfangen und sich allerdings sehr überheben
würde, falls er sie für sich begehrte. Jene Freiheit ist wirklich eine schwere
Schuld; und nur durch große Taten läßt sie sich abbüßen. Wahrlich, jeder gewöhnliche
Erdensohn hat das Recht, mit Groll auf einen solchermaßen Begünstigten hinzusehn:
nur mag ihn ein Gott davor bewahren, daß er nicht selbst so begünstigt, das
heißt so furchtbar verpflichtet werde. Er ginge ja sofort an seiner Freiheit
und seiner Einsamkeit zugrunde und würde zum Narren, zum boshaften Narren aus
Langeweile.
- Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (1874)
Unabhängigkeit
(6) Celia gab jeden Penny aus, den sie verdiente, und Murphy
verdiente keinen Penny. Seine ehrbare Unabhängigkeit war von einer Vereinbarung
mit seiner Hausdame abhängig, derzufolge diese Mr. Quigley besonders gepfefferte
Rechnungen schickte und die Differenz abzüglich einer angemessenen Provision
Murphy aushändigte. Diese prächtige Einrichtung gestattete ihm, sozusagen nach
Belieben dahinzusiechen, sie erwies sich jedoch für noch so bescheidenen Hausstand
als unzulänglich. n^Uee wurde dadurch noch kompliziert, daß eine Räu-neszone
ihre Schatten nicht so sehr auf Murphys Behausung als vielmehr auf Murphys Hausdame
warf. Und es war sicher, daß der geringste Appell an die Großzügigkeit Mr. Quigleys
streng geahndet würde. «Soll ich die Hand, die mich darben läßt, beißen», sagte
Murphy, «damit sie mich erdrosselt?» - (mur)
Unabhängigkeit
(7) Er hatte seine Ruhe nicht nur der durch Sabines Abreise
produzierten edlen Lösung zu danken. Er hatte einfach eine seiner Lage entsprechende
Fassung gefunden. Ihm konnte hier nichts mehr passieren. Endlich eine Unerschütterlichkeit.
Der Durchbruch nach innen war gelungen. Am Sonntag. Der täuschende Dialog habe
aufgehört. Er war wieder eine Stimme. Man kann nur in sich oder außer sich sein.
Das ist jetzt entschieden. Das bleibt so. Nicht mehr kennenzulernen von jedem.
Nicht länger eine herumtorkelnde Sammlung von Blößen. Der Idealzustand, opak.
Ein verschlossenes Wesen. Ein Stein. Man sieht hinaus, aber keiner sieht herein.
Dieser Zustand des Gefühls möchte am liebsten Unabhängigkeit genannt werden.
Falls der Zustand dauert, ist das große Wort brauchbar. Die Undurchdringlichkeit
(von außen nach innen) sammelt innen Wärme an.
Von dieser inneren Wärme dringt nichts hinaus. Das ist das Neue. Das soll das
Neue sein. Oder werden. Nach außen schön kalt. Aber nichts provozierend. Nichts
auf sich ziehen wollend. Einfach außen kalt, innen warm. Man hat sich zum ersten
Mal sich selber zugewendet. Jetzt muß es sich zeigen, ob man es aushält bei
sich. - Martin Walser,
Brandung. Frankfurt am Main 1987
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