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Zu der Zeit, als er noch als Fassadenkletterer
ging, hatte Säure eines Nachts das unwahrscheinliche Glück, in die üppige
Wohnung der Minne Khlaetsch einzusteigen, einer Astrologin der Hamburger Schule,
welche, anscheinend auf Grund eines Geburtsfehlers, unfähig war, die Umlaute
der deutschen Vokale auszusprechen oder auch nur wahrzunehmen. In der bewußten
Nacht befand sich Minne gerade im Anfangsstadium dessen, was sich bald als eine
Überdosis Hieropon entpuppen sollte, als Säure, damals noch ein gutaussehender
Jüngling mit lockigem Haar, sie in ihrem Schlafzimmer überraschte, seine Hand
um einen Schach-Läufer aus Elfenbein geschlossen, der sarkastisch lächelte und
mit gutem, peruanischem Rohkokain gefüllt war, aus dem man noch die Erde roch
— «Rufen Sie lieber nicht um Hilfe!» rät Säure, seine falsche Säureflasche schwenkend.
«Sonst läuft Ihnen Ihr hübsches Gesicht wie Vanillepudding von den Knochen.»
Minne jedoch durchschaut den Bluff und beginnt ein Hilfegebrüll an die Adresse
aller Damen ihres Alters im Gebäude, die die gleiche mütterliche Helft-mir-aber-laßt-euch-Zeit-bis-er's-getan-hat-Ambivalenz
gegenüber gutaussehenden Einschleichdieben empfinden. Der Hilferuf, den sie
sich zurechtgelegt hat, halb nüchterne Beschreibung, halb verhaltene Ermutigung,
lautet: «Hübsch Räuber! Hübsch Räuber!» aber weil sie diese Umlaute nicht sprechen
kann, kommt natürlich «Hubschrauber! Hubschrauber!»
dabei raus. Nun schreiben wir die goldenen Zwanziger, und kein Mensch in Hörweite
ahnt auch nur im entferntesten, was dieses Wort bedeutet, Hubschrauber? was
ist das? -kein Mensch, bis auf einen fingernägelkauenden, paranoischen Studenten
der Aerodynamik im Hinterhof einer weit entfernten Mietskaserne, der den Schrei
durch die späte Berliner Nacht, über Trambahnquietschen, über Flintenschüsse
aus einem anderen Viertel und über einen Mundharmonikanovizen hinweg hon, der
schon seit vier Stunden versucht, «Deutschland, Deutschland über alles» zu blasen,
der schon jede mögliche Note verfehlt, jeden einzelnen Takt geschmissen, jeden
denkbaren Atemrhythmus verhaut hat: ü ... berall ... es ... inde ... e-e-e ...
und wieder eine lange, lange Pause, oh, mach schon, du Arschloch, mach zu, du
schaffst es Weee-elt, autsch, daneben, aber gleich korrigiert... durch
all das dringt der Schrei vom Hubschrauber an sein Ohr, eine Schraube, die hebt,
eine Schraube durch den Korken Luft über dem Wein der Erde, der leuchtend herabstürzt,
ja, er begreift ganz genau - und kann der Schrei wohl eine Prophezeiung sein
(der Himmel voll von ihnen, in den Luken unter den wirbelnden Schrauben graue
Polizisten, neuartige Strahlenwaffen wie geblähte Schamkapseln vor ihren Schößen
wir sehen euch von oben, jetzt könnt ihr nirgends mehr hin, das ist eure letzte
Gasse, euer letzter Bunker), eine Warnung, nur ja jetzt hübsch daheim zu bleiben,
sich ja nicht einzumischen? - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981