mgänglichkeit
Man braucht nur einen flüchtigen Blick
in die Spruchweisheit der Edda zu werfen, und man wird den Verdacht nicht
los, daß die alten Germanen beträchtlich hinter der Darstellung unserer
ehemaligen Hoftheater zurückbleiben. Vom Kampf heißt es da nicht etwa nur:
Sei tapfer; kehre dem Gegner nie den Rücken; wehre dich bis zum Tode; sondern
auch: Kämpfe möglichst so, daß der Gegner die Sonne im Gesicht hat. Von
der Liebe heißt es nicht: Sei keusch und züchtig;
rede nur lyrisch mit ihr; sondern ganz handfest: Erstens sind wir Männer
alle Windhunde, aber mit Schwatzen bekommen wir sie schon herum; wenn das
nicht geht, dann lobe ihre Figur; und wenn du sie zur Lust verlocken willst,
dann versprich ihr schöne Geschenke; ganz honett - der einzige Anklang
an Tacitus - wird hinzugefügt: Gib sie ihr aber auch: denn du kannst
einen solchen Genuß nie teuer genug bezahlen. Die ganze Spruchweisheit
ist durchzogen von Warnungen. Und wenn man aus ihr schließen darf, so scheinen
ihre Verfasser, statt Wagnersänger, ganz gründlich welterfahrene Skeptiker
gewesen zu sein, die gar keine Scheu hatten, »auszusprechen, was ist«.
Vor allem aber scheidet sie vom Wagnersänger wie vom Rasseforscher, daß
sie weit davon entfernt sind, sich selbst für vollkommen zu halten. Sie
sind Weltleute, ganz umgänglich. Der Bart fehlt.
Oder ist doch mindestens nicht nach innen gewachsen. - Carl Christian
Bry, Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns. Nördlingen 1988
(Greno 10/20 85, zuerst 1924)