eberlieferung
Im Gefängnis von Genua diktierte Marco Polo den Milione
seinem Mitgefangenen, der schon viele Jahre eingesperrt war. Es war Rustico
von Pisa, ein Bänkelsänger mittelalterlicher Geschichten. Das Buch
erfährt eine Reihe von Verwandlungen: Zuallererst
wird es von Rustico in französischer Sprache - dem verseuchten Französisch der
fahrenden Sänger und Legendenerzähler - niedergeschrieben. Durch eine rätselhafte
Eingebung des Geschicks oder des Buches selbst verschwand dieser Text, der aus
der Begegnung eines wortkargen Forschers mit einem, schwatzhaften Bänkelsänger
entstanden war, den vielleicht die lange Pein der Gefangenschaft und seine unbewegten
Phantasien aufgezehrt hatten. Als Polo aus dem Gefängnis entlassen war, arbeitete
er noch weiter an diesem Text, fügte vielleicht einige Anmerkungen hinzu; all
das ist verlorengegangen; der Milione sollte viele Ausgaben erleben, aber lauter
Ausgaben von Übersetzungen; denn dieses unendlich oft gelesene, in alle Sprachen
übersetzte, immer wieder aus anderen Übersetzungen übersetzte Buch hat sich
geweigert, im Original fortzubestehen.
Es muß ein ziemlich bizarres Buch sein, das da nur in Übersetzungen
weiterlebt, die nicht selten sehr unterschiedlich sind und von denen keine vollständig
ist. Warum aber wollte das Buch nicht weiterleben? Verabscheute es etwa die
zweideutige Sprache, halb Märchen halb Chronik, in der Rustico es abgefaßt haben
mußte? Oder wollte es eher sterben, damit sich der Milione in zahllose,
›fast‹ genaue Texte vervielfältigen mußte, in denen Asien mit der Ruhelosigkeit
einer magischen und realen Welt immer wieder erschien? Vielleicht konnte das
Buch nicht weiterleben, da es nicht von Marco eigenhändig niedergeschrieben
worden war; sondern konnte lediglich zahllose Milione hervorbringen,
die nur für den Leser, den Kopisten und den Übersetzer entstanden. Sein Kern,
das, was Marco Polo gesehen und erlebt hatte, durfte nicht bleiben, um in seiner
strengen, geduldigen Prosa die Grenzen der Welt festzulegen; an seine Stelle
mußten zahllose Texte treten, von denen keiner erschöpfend war, sondern die
von Asien immer etwas mehr oder etwas weniger oder schlicht etwas Anderes erzählten.
Das zu Erinnerung geronnene Asien erwarb somit eine neue, illegitime Lebenskraft,
wurde wieder zu ›Welt‹, zu dem Ort, wo die Dinge sich immer weiterverwandeln
und die Ereignisse weitergeschehen, bis sie von zahlreichen Todesfällen abgeschafft
werden. -
Manganelli furioso. Handbuch für unnütze Leidenschaften. Berlin 1985
Überlieferung (2) Für die Aktion im Dom findet sich
in den einschlägigen Berichten der unterschiedlichste Wortlaut. Nach Hausmann
rief Baader, als Dryander seine Predigt beginnen wollte, mit lauter Stimme dazwischen
: "Einen Augenblick ! Ich frage Sie, was ist Ihnen Jesus Christus ? Er
ist Ihnen Wurst... !" Weiter sei er nicht gekommen; es habe einen fürchterlichen
Tumult gegeben. Baader sei verhaftet worden und man
habe eine Anklage wegen Gotteslästerung gegen ihn erhoben, habe ihm aber letztlich
nichts anhaben können, da er das Manuskript seiner Ansprache bei sich gehabt
habe, in der es - weiter im Text - hieß : "denn Sie kümmern sich nicht
um seine Gebote" etc.. Walter Mehring läßt Baader auf die Gewissensfrage
Dryanders, was uns denn Jesus Christus bedeute, "Ihnen Wurstsemmel, Herr
Pastor !" antworten; Hans Richter wiederum berichtet, der Oberdada
habe dem kaiserlichen Kirchenmann hoch von der Empore her mitgeteilt, daß "Christus
ihm" - Baader selbst - "wurscht" sei. Aus dem Zwischenruf wird
dann zwischenzeitlich wohl auch einmal eine "pazifistisch-dadaistische
Rede". In der 'Deutschen Zeitung' vom 18.11.1918 schließlich steht zu lesen
: "Zwischenfall im Dom. Als gestern Oberhofprediger Dryander im Dom den
Gottesdienst abhielt, unterbrach ihn ein besser gekleideter Herr mittlerer Jahre
und hielt von der Empore herab eine Ansprache, die mit den Worten schloß : 'Jesus
Christus ist uns Wurst'. Pfuirufe ertönten, viele Frauen brachen in Tränen aus,
der Geistliche barg das Gesicht in Händen. Die Gemeinde aber stimmte sofort
in den Choral ein - 'Ein feste Burg ist unser Gott!' Man warf den Mann aus dem
Gotteshaus". - Karl Riha, Nachwort
zu: Johannes Baader, Das Oberdada. Siegen 1987 (Vergessene Autoren der Moderne
XXXI)
Überlieferung (3) Die Bestände in Alexandria müssen eine halbe Million
»Titel« erreicht haben. Die Bibliothek wurde unter den Römern weitergeführt.
Daß Julius Caesar sie 48 V. Chr. niedergebrannt
habe, ist eine Legende, die sich daraus erklärt, daß bei seiner Eroberung
in der Nähe des Hafens Lagerhäuser mit großen Mengen von Papyrus verbrannten.
Die wahren Feinde dieses riesigen Wissensspeichers waren die Christen,
die während des 4. und 5. Jahrhunderts n. Chr. systematisch die Zentren
heidnischer Gelehrsamkeit zerstörten. Angeblich brannte die Bibliothek
bei der arabischen Eroberung Ägyptens 640 n. Chr. nieder, in Wirklichkeit
aber kann zu diesem Zeitpunkt kaum noch etwas von diesem antiken Schatzhaus
übrig gewesen sein. Im Gegenteil, hätten die Araber nicht die griechischen
Texte an ihren eigenen Universitäten tradiert und dem Westen im späten
Mittelalter zugänglich gemacht, so wären uns viele Schriften der gräko-römischen
Welt heute überhaupt nicht mehr verfügbar. - (
erf
)