ugend   Die Väter sind in ihren Strafpredigten gegen den Luxus äußerst umständlich und in das Einzelne gehend; und unter den verschiedenen Artikeln, welche ihre fromme Entrüstung erregten, müssen wir aufzählen: falsches Haar, Gewänder von anderer als weißer Farbe, Musikinstrumente, Gefäße von Gold und Silber, Kissen mit Dunen (weil Jakobs Haupt auf einem Steine ruhte), weißes Brod, fremde Weine, öffentliche Begrüßungen, der Gebrauch warmer Bäder und das Rasiren des Barthaares, was nach Tertullians Ausdrucke eine Lüge gegen unser eigenes Antlitz und ein ruchloser Versuch ist, die Werke des Schöpfers zu verbessern. Als das Christenthum auch bei den Reichen und Gebildeten Eingang fand, wurde die Beobachtung dieser seltsamen Gesetze, wie es auch jetzt der Fall sein würde, jenen Wenigen gelassen, welche nach höherer Heiligkeit geizen. Aber es war den unteren Ständen des menschlichen Geschlechtes stets leicht, die Verachtung jenes Pompes und jener Freuden, welche das Schicksal außer ihren Bereich gerückt hat, als ein Verdienst in Anspruch zu nehmen. Die Tugend der ersten Christen war gleich jener der ersten Römer gar häufig durch Armuth und Unwissenheit beschützt. - Edward Gibbon, Verfall und Untergang des Römischen Reiches. Nördlingen 1987 (Die Andere Bibliothek 29, zuerst 1776 bis 1788)

Tugend (2) Die weiber füren das schwert im maul / darumb muß man sie auf die scheyden schlagen  Es ist ein weib von natur ein kläppisch weschig ding / darumb meynen etlich/ dieweil sie das schwerdt in dem maul füren/ muß man die weiber auff die scheyden/ das ist/ auffs maul/ klopfen. Sanct Peter sagte von zweien tugenten / die den weibern wol anstehen. Die erst heißt Sanfftmut/ die ander Stille/ und diese beyde im geyst/ dann das ist der schmuck des hertzen/ welcher vor Gott prächtig ist. Er setztet aber die zwo tugent wider zwey laster / die den weibern von natur angeboren synd/dann wo ein weib ist die der ehrn fromm ist/ den mann lieb hat/und nicht gern wollt/ daß es unrecht zugieng/ und sihet gleichwol/ daß es unrichtig im hause stehet/ das gesind ist untrew/zerbricht vil/geschicht vil schaden hinden und vornen/die kan es nicht lassen sie schilt/flucht/und ficht es alles mit dem maul aus.- (klueg)

Tugend (3)  Das ist heute doch keine Schande mehr. Heuchelei ist ein Mode-Laster, und alle Mode-Laster gelten für Tugenden. Die Rolle des ehrbaren Mannes ist die beste von allen Rollen, die man spielen kann. Heutzutage bietet der Beruf des Heuchlers uns die größten Vorteile. Das ist eine Kunst, die gerade um ihrer Verlogenheit willen aufs höchste geschätzt wird. Und selbst wenn sie entlarvt wird, wagt man nichts gegen sie zu sagen. Alle andern menschlichen Laster werden bekrittelt, jeder hat die Freiheit, sie offen anzugreifen; nur die Heuchelei ist ein privilegiertes Laster, das mit eigner Hand der ganzen Welt das Maul stopft und sich einer behaglichen Straflosigkeit erfreut. Man schließt mit Hilfe seiner Schliche ein enges Bündnis mit allen ähnlich Denkenden. Wer bei einem von ihnen Anstoß erregt, hat die ganze Gesellschaft auf dem Halse, und jene, von denen man sehr wohl weiß, daß sie in gutem Glauben gehandelt haben, und die jeder als die wirklich Betroffenen kennt, - jene sind, sage ich, immer die Narren der anderen. Sie gehen gutgläubig in die Falle der Heuchler und unterstützen blindlings die Affen ihrer Handlungen. Was meinst du, wieviel Leute ich kenne, die durch diesen Kniff die Verfehlungen ihrer Jugend vergessen machten, sich aus dem Mantel der Religion einen Schild verfertigten und unter diesem Ehrfurcht heischenden Gewand die Genehmigung erhielten, die gemeinsten Menschen auf Gottes Erdboden zu sein? Man kann genau Bescheid wissen über ihre Ränke und sie ganz und gar durchschauen - sie stehen trotzdem in hohem Ansehen bei den Leuten; ein Neigen des Kopfes, ein schwerer Seufzer, ein Augenrollen rechtfertigen vor der Welt alles, was sie auch tun mögen. Unter diesen sichern Schutz will ich mich jetzt stellen und meine Geschäfte in Ordnung bringen. Ich werde meine süßen Gewohnheiten nicht aufgeben, aber ich will ihnen im Geheimen frönen und ich will mich ohne Lärm vergnügen. Wenn ich entdeckt werden sollte, werde ich, ohne mich sonderlich anzustrengen, meine Interessen mit denen der ganzen Gesellschaft zu verquicken wissen, und werde dann von ihr gegen alle verteidigt werden. Das ist die beste Methode, ungestraft alles zu tun, was man will. Ich werde mich zum Richter der Handlungen anderer aufspielen, werde alle aufs strengste verurteilen und nur von mir selbst guter Meinung sein. Wer mich einmal auch nur im geringsten geärgert hat, dem werde ich nie verzeihen und im stillen einen unversöhnlichen Haß gegen ihn nähren. Ich werde mich zum Rächer des Himmels aufspielen und unter diesem bequemen Vorwand meine Feinde zu treffen wissen. Ich werde sie der Gottlosigkeit anklagen und gegen sie alle vorlauten Eiferer hetzen, die ohne Kenntnis des Sachverhalts überall gegen sie schreien, sie mit Schmähungen überhäufen und sie im Bewußtsein ihrer Autorität hochmütig verdammen. So nutzt man die Schwächen der Menschen aus.  - Molière, Don Juan. In: Molière, Werke. Übs.  Arthur Luther, R. A. Schröder, Ludwig Wolde. Wiesbaden 1954 (Insel)

Tugend (4) Warum wollen Sie den Heroismus so weit treiben, daß er Sie leiden macht ? Wenn die Tugend uns nicht glücklich macht — ei, zum Kuckuck, welchen Zweck hat sie denn ? Ich rate Ihnen also, nur gerade so viel Tugend zu haben, und nicht mehr, wie Sie brauchen, um Ihnen Behaglichkeit und Bequemlichkeit zu beschaffen Sollte etwas herannahen, was Ihnen einen tödlichen Kummer verursachen würde, so schließen Sie sich dagegen ab halten Sie es mit allen Kräften von sich fern, und quälen Sie sich nicht mit dem Gedanken, daß Sie es hätten tun können, aber nicht getan haben. Und keinen Heroismus, bitte! - (gale)

Tugend (5)

Tugend (6) Zeit meines Lebens ist mir aufgefallen, wie reichlich oft die Anwälte der Tugend und sogar ihre Beflissenen augenscheinlich selber ernste Zweifel an der Unbezwinglichkeit der Tugend als eines Schildes hegen und Glauben und Vertrauen lieber nicht in die Tugend setzen, sondern eher in den Gott oder die Göttin, deren Schützling die Tugend ist; aus Lehnstreue zur Obergottheit die Tugend selbst gewissermaßen übergehend, wofür als Gegenleistung die Göttin entweder die Versuchung abwehrt oder jedenfalls Fürsprache einlegt. Was sehr viel erklärt, da mir ebenfalls zeit meines Lebens aufgefallen ist, daß die Göttin, deren Schützling die Tugend ist, die gleiche zu sein scheint, deren Schützling auch das Glück, wenn nicht gar die Torheit ist.   - (spit)

Tugend (7)  Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, daß es ein großes Verdienst ist, die Natur zu überlisten, und daß es anderseits ein schwerer Fehler ist, sich von ihr überlisten zu lassen, und daß man eine Tugend, die unserseits eine Feigheit vor der Natur ist, härter büßen muß als ein Laster, das eine Niederlage der Natur vor uns wäre.

Die Natur beherrscht uns durch Überlistung, wir unserseits beherrschen sie ebenfalls durch Überlistung, und es ist eine gewöhnliche Tugend, sich von ihr überlisten zu lassen, während es eine seltene Tugend ist, sie zu überlisten.

Würden wir, was die Natur will, wir versänken in namenloser Schmach.

Gewöhnliche Tugend nenne ich die heimliche Herrschaft eines weniger gefährlichen Lasters, das man allen anderen vorzuziehen verstanden hat und das alle anderen regiert, als Seelenlenker und Lebensordner: bald ist dies die Trägheit, häufiger der Geiz.

Die Mittelmäßigen werfen dir deine Laster vor, als ob sie der Tugend fähig wären.

Man kann nicht ohne Tugenden leben, ebenso wenig wie ohne Geld. Die meisten Tugenden sind nur das gängige Kleingeld der Laster.   - Marcel Jouhandeau, Herr Godeau heiratet. In: M. J., Elise. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1933 ff.)


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