raumorgan
Hinsichtlich auf unsern Hauptgegenstand bleibt die Thatsadie stehn, daß
wir ein Vermögen haben zur anschaulichen Vorstellung raumerfüllender Gegenstände
und zum Vernehmen und Verstehn von Tönen und Stimmen jeder Art, Beides ohne
die äußere Anregung der Sinnesempfindungen, welche hingegen zu unserer wachen
Anschauung die Veranlassung, den Stoff, oder die empirische Grundlage, liefern,
mit derselben jedoch darum keineswegs identisch sind; da solche durchaus intellektuaI
ist und nicht bloß sensual; wie ich dies öfter dargethan und bereits oben die
betreffenden Hauptstellen angeführt habe. Jene, keinem Zweifel unterworfene
Thatsache nun aber haben wir fest zu halten: denn sie ist das Urphänomen,
auf welches alle unsere ferneren Erklärungen zurückweisen, indem sie nur die
sich noch weiter erstreckende Thätigkeit des bezeichneten Vermögens darthun
werden. Zur Benennung desselben wäre der bezeichnendeste Ausdruck der, welchen
die Schotten für eine besondere Art seiner Aeußerung oder Anwendung sehr sinnig
gewählt haben, geleitet von dem richtigen Takt, den die eigenste Erfahrung verleiht:
er heißt: second sight, das zweite Gesicht.
Denn die hier erörterte Fähigkeit zu träumen ist in der That
ein zweites, nämlich nicht, wie das erste, durch die äußern Sinne
vermitteltes Anschauungsvermögen, dessen Gegenstände jedoch,
der Art und Form nach, die selben sind, wie die des ersten; woraus
zu schließen, daß es, eben wie dieses, eine Funktion des Gehirns
ist. Jene Schottische Benennung würde daher die passendeste
seyn, um die ganze Gattung der hieher gehörigen Phänomene zu
bezeichnen und sie auf ein Grund-Vermögen zurückzuführen: da
jedoch die Erfinder derselben sie zur Bezeichnung einer besondern,
seltenen und höchst merkwürdigen Aeußerung jenes Vermögens verwendet
haben; so darf ich nicht, so gern ich es auch möchte, sie gebrauchen,
die ganze Gattung jener Anschauungen, oder genauer, das subjektive
Vermögen, welches sich in ihnen allen kund giebt, zu bezeichnen.
Für dieses bleibt mir daher keine passendere Benennung, als die
des Traumorgans, als welche die ganze in Rede stehende Anschauungsweise
durch diejenige Aeußerung derselben bezeichnet, die Jedem bekannt
und geläufig ist. Ich werde mich also derselben zur Bezeichnung
des dargelegten, vom äußern Eindruck auf die Sinne unabhängigen
Anschauungsvermögens bedienen.
- Schopenhauer, Versuch
über Geistersehn und was damit zusammenhängt,
nach (schop)
Traumorgan (2) Was hältst Du, hatte Loo geschrieben,
vom Traumorgan? Weshalb soll ein Einwirken Verstorbener auf Lebende nicht möglich
sein? und umgekehrt? Sogar mein Vater gab zu, dies wäre a priori nicht zu leugnen
- oder vielmehr, es sei ein Auswuchs der Schopenhauerischen Trennung von Willen
und Intellekt; hätte es damit seine Richtigkeit, so wäre die Frage diskutierbar.
Denn das stehe auch ihm fest, daß der Mensch mehr sei als nur eine chemische
Verbindung in historisch gewordener Form. Und wie sollte Schopenhauer nicht
recht haben: ist nicht die Welt so wüst und traurig? -
Gustav Sack, Ein verbummelter Student. Stuttgart 1986 (zuerst 1918)