Träume, nomadische   Wollte man den Unterschied zu den seßhaften Träumen* zusammenfassen, so könnte man sagen, daß er in einer zunehmenden Sinnesschärfe besteht, in der Art und Weise, wie sich die Dinge und Ereignisse abzeichnen, in der »Lentikularität« der Bilder. Wir träumen immer weniger Rembrandt und immer mehr van Eyck oder Rogier van der Weyden. Wenn wir uns unsere Träume erzählen, benennen wir Einzelheiten mit ungewöhnlicher Präzision, sowohl bezüglich des Dekors als auch der Geschichte. Wir können sie natürlich nicht miteinander vergleichen, aber Carols und meine Beschreibungen haben in diesen Tagen eine minutiöse Textur von sehr feinem Korn, klar definierten Farben und geschlossenen, präzisen Formen. Wenn wir von jemandem träumen, den wir kannten oder kennen, so ist jeder Gesichtszug, jede Geste, jedes Wort von einer erstaunlichen Wirklichkeitstreue, aber wenn es sich um eine Erfindung des Traumes handelt, dann hat diese Erfindung ebenfalls Umrisse und Eigenheiten, die man als stereoskopisch bezeichnen könnte.

Wir fragten uns, worauf diese manchmal fast unerträgliche Verfeinerung unserer Träume zurückzuführen war. Unter anderen Hypothesen muß man die neuen Stimuli berücksichtigen, die bezüglich dessen, was der Resonanzkörper Unterbewußtsein im Schlafzustand über die Sinne empfängt, eine tiefgehende Wandlung bedeuten. Wahrscheinlich verändert sich die Traumqualität auch bei einer Flugreise oder einer Hotelübernachtung, doch da es sich um kurze, vereinzelte Erfahrungen handelt, wird dies nur wenigen bewußt. Wir dagegen befinden uns seit drei Wochen in einem Stimulationssystem, das nur partiell variiert (größere oder geringere Anzahl von Stimuli, je nach Topographie und Beschaffenheit des Rastplatzes) und durch die allnächtliche Wiederholung schließlich einen Traumtypus hervorgebracht hat, der zwangsläufig unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen und sich zur Beobachtung angeboten hat.

Was ich das Stimulationssystem nenne, umfaßt neben anderen, weniger nachprüfbaren Dingen: die Präsenz, die Scheinwerfer und Geräusche der Lastwagen, sowohl was ihr ständiges Vorbeifahren auf der Autobahn als auch ihre Ankunft, Plazierung und Abfahrt auf dem Rastplatz betrifft, wo Fafnir über unseren Schlaf wacht. Wie der geneigte Leser bereits weiß, leben wir sehr wenig auf der Autobahn, doch sobald wir auf den Parkplätzen sind, sehen und hören wir die Lastwagen, die wie wir ein bißchen ausruhen oder übernachten wollen. Es war bereits von den faszinierenden ephemeren Städten die Rede, die nachts in den Parkzonen mancher Rastplätze entstehen, wenn zehn oder zwanzig schwere Lastzüge und eine Vielzahl von Wohnwagengespannen und Campingbussen wie Fafnir die Kennzeichen, Sprachen, Gerüche und Geräusche vieler verschiedener Länder vermengen. Wenn wir in Fafnirs Kapsel eingeschlossen sind und auf seinem Leinwandbalgen wie in einem fortwährenden Laterna-Magica-Spiel die Scheinwerfer tanzen, während die mechanischen Geräusche wie der deutlicher ausgeprägte Vordergrund des anhaltenden Lärms der Autobahn sind: welche dieser zuvor nie so konzentriert um uns herum vorhandenen Stimuli lösen dann die andere Aktivität des onirischen Theaters aus? Und warum arbeitet diese in unserem gewohnten Leben fehlende Stimulation so deutlich die Silhouetten der Träume heraus, warum werden sie dadurch verfeinert und nicht verwischt?

* Nicht etwa, weil wir in Paris besonders geruhsam lebten, sondern weil die Träume immer im selben Habitat stattfinden: Schlafzimmer, Bett, Lichtverhältnisse, Geräuschkulisse usw.

  - Julio Cortázar, Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn. Frankfurt am Main 2014 (BS 2481, zuerst 1983)

 

Traum Nomade

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme