radition  Alle drei Schriftformen sind phonographisch, das heißt, die Zeichen stellen im wesentlichen verschiedene Laute dar, wie die Buchstaben im deutschen Alphabet. Über dreitausend Jahre lang gebrauchten die alten Ägypter ihre Schriften für alle möglichen Zwecke, nicht anders als wir Heutigen. Dann, gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr., innerhalb einer Generation, verschwanden die ägyptischen Schriften. Die letzten datierbaren ägyptischen Schriftdokumente finden sich auf der Insel Philae. Im Jahr 394 n. Chr. wurde dort eine ägyptische Inschrift auf eine Tempelwand gemeißelt, und ein demotisches Graffito konnte auf 450 n. Chr. datiert werden. Es war das sich ausbreitende Christentum, das die ägyptische Schrift auslöschte; die Kirche verbot ihren Gebrauch, um jede Verbindung mit der heidnischen ägyptischen Vergangenheit zu kappen. Die alten Schriften wurden durch das Koptische ersetzt, eine Schrift, die aus den 24 Buchstaben des griechischen Alphabets bestand, ergänzt durch sechs demotische Buchstaben für ägyptische Laute, die im Griechischen nicht verwendet wurden. Das Koptische errang die unbestrittene Vorherrschaft, und die Fähigkeit, die Hieroglyphen oder die demotische und die hieratische Schrift zu lesen, starb aus. Zwar wurde die alte ägyptische Sprache immer noch gesprochen und entwickelte sich zur koptischen Sprache, doch bald schon, im 11. Jahrhundert, verdrängte das Arabische die koptische Sprache und Schrift. Die letzte sprachliche Verbindung zu den alten Reichen Agyptens war gekappt, und das Wissen, das nötig war, um die Pharaonenlegenden zu lesen, ging verloren. - (krypt)

Tradition (2) Wie Karen Gordon-Grube von der Freien Universität Berlin gezeigt hat, waren die Ethnologen so sehr mit dem Nachweis von institutionalisiertem Kannibalismus unter den "Primitiven" beschäftigt, daß sie dabei eine gutbelegte kannibalistische Tradition übersehen haben, die sich bei ihnen zu Hause findet. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert empfehlen medizinische Lehrbücher in England und auf dem europäischen Kontinent die Einnahme von "Mumie", — "einem medizinischen Präparat aus den Überresten eines einbalsamierten, getrockneten oder auf andere Weise 'präparierten' menschlichen Körpers, wobei es sich im Idealfall um den Körper eines Menschen handelte, der eines plötzlichen und möglichst auch gewaltsamen Todes gestorben war". Die Londoner Apotheken hatten dieses Allheilmittel auf Lager, aber für besonders hochwertige Erzeugnisse wurde man von den Ärzten an einen Mumienladen verwiesen. - (mensch)

Tradition (3) Wenn man, wie manche wollen, in dem modernen Dadaismus eine Auflehnung gegen die Verirrungen des Futurismus erblickt, so kann man darauf verweisen, daß schon im 18. Jahrhundert die gleiche Ursache in Italien eine der heutigen ganz ähnliche Bewegung hervorgerufen hatte. Gegen das Jahr 1740 hatten sich in Venedig einige Künstler, Gelehrte, Dichter und Beamte vereinigt, um gegen die literarische Geschmacksverirrung der Zeit Front zu machen und die Lächerlichkeit durch die Lächerlichkeit zu töten. Die Gesellschaft führte den Namen: »Verein der Dummköpfe« und betätigte sich ganz im Sinn der heutigen Dadaisten, indem sie durch Häufung ungeheuerlicher Albernheit die Werke, die sie bekämpfte, im Zerrspiegel der Karikatur auffing. Jede Sitzung dieser Akademie der Dummköpfe begann mit dem Feuerwerk eines blödsinnigen und sinnlos zusammengestoppelten Phrasenschwulsts. Die Statuten bedingten, daß der Präsident sich nur in zusammenhanglosen Redensarten erging, die ein normaler Mensch nicht verstehen konnte. Die Aufgabe, die hier der Lösung harrte, war indessen so schwer, daß sich der zuerst gewählte Präsident als unfähig erwies, und daß man wegen der Wahl des Nachfolgers in Verlegenheit kam. Zum Glück fand man endlich in einem schriftstellernden Maniaken, der jeden Tag im Kaffeehaus die Gesellschaft durch einen Wust unsinniger Dummheiten in Heiterkeit versetzte, den Präsidenten, der die für das Amt erforderlichen Fähigkeiten mitbrachte. Dieser »Erzdummkopf« genannte Präsident war ein gewisser Giuseppe SECCHELLARI. Mit einer Pflaumenkrone als Narrenkappe auf dem Kopf hielt er in jeder Sitzung eine Rede, die das Unmöglichste an Albernheit möglich machte. War er einmal nicht zur Stelle, so wurde eine seiner früheren Reden verlesen, die auch in Abwesenheit des schon in seinem Äußern eine Erscheinung von unwiderstehlicher Komik darstellenden Secchellari ihren erheiternden Eindruck nicht verfehlte. Kurz, er war ganz der Mann, den auch unsere heutigen Dadaisten gut hätten gebrauchen können.
[BERLINER BÖRSEN-COURIER Nr. 315, 9. 7. 1920.] - (ser)

Tradition (4) Eine Tradition ist nur lebensfähig ist, solange sie unbewußt bleibt, und sie duldet keine Unterbrechung. Unmerkliche Stetigkeit ist eine ihrer wesentlichen Eigenschaften. Die Redensart "eine Tradition aufnehmen, erneuern" ist eine Heuchelei. Eine Veranstaltung wie die Krönung König Karls X. mußte notwendigerweise minder erhaben denn komisch wirken. Sobald eine Tradition sich als solche zu erkennen gibt, ist sie plötzlich nur noch eine unter vielen Formen des Seins oder Tuns, und mit dem gleichen Recht wie diese einer Kritik ihres Eigenwerts ausgesetzt. Oft hat man notgedrungen solche Prüfungen vorzunehmen und sieht sich unvermutet vor die heikle Aufgabe gestellt, das, was vom Erbe einer Vergangenheit erhalten zu werden verdient, vom Minderwertigen zu scheiden. Es ist nicht immer ganz leicht, den Schmutz von der Patina zu sondern.  - (deg)

Tradition (5) Die Islamisten berufen sich in ihrem Furor besonders gern auf die blutige Anekdote von der Niederwerfung des jüdischen Stammes der Quraiza im Jahre 627. Als Mohammeds Truppen die Quraiza, die zu den Gegnern des Propheten in Medina gehörten, überwunden hatten, wurden die 600 bis 900 männlichen Mitglieder des Stammes allesamt geköpft.

So ging es weiter in Nordafrika, Spanien, Asien, überall, wohin sich der Islam ausbreitete: Dessen Geschichte ist arm an philosophisch-erbaulichen Bekehrungsgeschichten und reich an Eroberungszügen, bei denen die Besiegten schlicht vor die Wahl gestellt werden, sich der siegreichen Religion anzuschließen oder ihre Häupter zu büßen. Bezeichnenderweise führt ausgerechnet Saudi-Arabien, das Heimatland Bin Ladens und die unerschöpflich sprudelnde Geldquelle aller Hassprediger und Terroristen, das Schwert in seiner Landesflagge.

Natürlich sind solche symbolischen Schwerter genauso wenig eine islamische Erfindung, wie es die Hinrichtungsmethode des Köpfens ist. In Rom wurde es in der Kaiserzeit als Höchststrafe für römische Bürger eingeführt - die klassische Methode im alten Stadtstaat war gewesen, den Delinquenten vom tarpejischen Felsen zu stürzen. Bei den Germanen gab es seit uralter Zeit auch die Strafe des Kopfabpflügens für denjenigen, der auf dem Felde einen Grenzstein versetzt hatte. Im Gegensatz dazu war man bis 1945 in Deutschland geradezu stolz darauf, Verurteilte mit dem relativ humanen Fallbeil hinzurichten - anders als in England oder Österreich, wo Erhängen üblich war, oder gar in Spanien, wo noch in den Siebzigerjahren Menschen mit der Garotte langsam erdrosselt wurden. - Matthias Heine, Die Welt v. 30. Juni 2007

Tradition (6)  Die Bohuns waren eine der wenigen Adelsfamilien, die wirklich aus dem Mittelalter stammen, und ihr Banner hatte tatsächlich Palästina gesehen. Aber es wäre ein großer Fehler anzunehmen, daß solche Häuser die ritterlichen Traditionen hochhalten. Nur wenige außer den Armen bewahren Traditionen. Die Aristokratie lebt nicht nach Traditionen, sondern nach Moden. Die Bohuns waren unter Queen Anne Raufbolde gewesen, und unter Queen Victoria Stutzer und Schürzenjäger. Aber wie so manches wirklich alte Haus waren sie in den letzten zwei Jahrhunderten zu Trinkern und Gecken verkommen, bis sogar Gerüchte von Geisteskrankheit umliefen.  - G.K. Chesterton, Der Hammer Gottes. In: Ders., Father Browns Einfalt. Zürich 1991 (zuerst 1911)

Tradition (7)  Wie zuvor begab ich mich an das Abschreiben der Bücher, doch wurde ich augenblicklich gewahr, daß ich mehr Wörter in meiner Sprache trug als derjenige, der das Buch geschrieben hatte. So begann ich, dem abgeschriebenen Stoff hier ein Wort hinzuzufügen, dort zwei, Satz für Satz. Es war Dienstag, und meine Wörter waren an diesem ersten Abend etwas säuerlich und hart unter den Zähnen, an den folgenden Abenden jedoch bemerkte ich, daß die Wörter mit fortschreitendem Herbst von Tag zu Tag heranreiften, wie Obst, und daß sie mit jedem Mal saftiger wurden, kerniger und süßer, voll des Inhalts, ebenso angenehm wie kräftigend. Und am siebten Abend, als beeilte ich mich, damit das Obst nicht überreif werde, nicht abfalle und faule, fügte ich der Vita der heiligen Petka eine ganze Seite hinzu, die nicht in einer der Vorlagen, von denen ich abschrieb, vorhanden war. Anstatt meinen Frevel aufzudecken und bloßzustellen, begannen die Mönche danach zu verlangen, daß ich für sie abschrieb, ja sie nahmen meine Bücher mit den erwähnten Einschüben lieber als die anderer Abschreiber, deren es in der Schäferschlucht viele gab. Ich faßte mir ein Herz und beschloß, die Sache auf die Spitze zu treiben. Nicht nur, daß ich den Viten Geschichten beigab, ich begann vielmehr damit, neue Einsiedler zu ersinnen, neue Wunder hinzuzufügen, und meine Bücher wurden bald teurer verkauft als die, von denen sie abgeschrieben waren. Nach und nach wurde ich mir der unheimlichen Macht bewußt, die ich im Tintenfaß festhielt und nach Gutdünken in die Welt entließ. Und dann kam ich zu dem Schluß: jeder Schreiber vermag, ohne sich zu überanstrengen, seinen Helden in nur zwei Zeilen zu töten. Um nun den Leser zu töten, also ein Lebewesen aus Fleisch und Blut, so reicht es aus, ihn für einen Augenblick in eine Gestalt des Buches zu verwandeln, in den Helden der Vita. Danach ist es ein leichtes...  - (pav)

Tradition (8)  Die wahren Feinde des riesigen Wissensspeichers in Alexandria waren die Christen, die während des 4. und 5. Jahrhunderts n. Chr. systematisch die Zentren heidnischer Gelehrsamkeit zerstörten. Angeblich brannte die Bibliothek bei der arabischen Eroberung Ägyptens 640 n. Chr. nieder, in Wirklichkeit aber kann zu diesem Zeitpunkt kaum noch etwas von diesem antiken Schatzhaus übrig gewesen sein. Im Gegenteil, hätten die Araber nicht die griechischen Texte an ihren eigenen Universitäten tradiert und dem Westen im späten Mittelalter zugänglich gemacht, so wären uns viele Schriften der gräko-römischen Welt heute überhaupt nicht mehr verfügbar. - (erf)

Tradition (9)

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