Tochter, schlimme  Eine grünlich hellgraue dürre Tochter, ihr wachsen keine Haare, also hat ihre Mutter, um den weißblanken Kopf zu verbergen, ihr viele wollene Helme gestrickt, in allen Farben und Stärken, zu binden unterm Kinn. Der linke Fuß dieser Tochter Ist lahm, verstehst Du. Aber ihr Mundwerk ist nicht lahm. Sie arbeitet sich auch ziemlich rasch im Haus auf und ab, dringt in Wohnungen ein, erzählt einer Frau, die im 1. Stock gerade kocht, sie habe deren Mann mit einer Blondine im vierten Stock verschwinden gesehen, sei nachgeschlichen, habe ein schweres Stöhnen und regelmäßiges Ächzen gehört, was könne das denn bedeuten? Die Frau rennt in den vierten Stock hinauf, die Tochter bemächtigt sich des Suppentopfes, verrichtet da hinein ihre Notdurft, fängt an zu lachen, lacht noch, wenn die Frau zurückkommt, den Suppentopf sieht und beginnt, auf die ekelige Lügnerin einzuschlagen. Weil es in jeder Woche zu einer solchen Bestrafung kommt und weil die genasführten und angeekelten Leute die Halblahme oft einfach über die Treppe hinunterstoßen müssen und weil Wunden bei ihr unheimlich langsam heilen, ist sie andauernd von halb verheilten Wunden bedeckt. Wenn sie gerade mal keiner Bosheit nachgeht, sitzt sie im Treppenhaus in einer Ecke und kratzt den Schorf von ihren Wunden. Den ißt sie auch gern.   - Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main 1966
 
 

Tochter

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme
Tochter, mißratene