obsucht  Die häufigste Form geistiger Erkrankung ist die Manie. Man braucht nun nicht etwa dabei zu denken, dass die Leute, wie der Laie oft meint, dabei die "Wand hinauf laufen" müssen. Ganz im Gegenteil! Es ist die stille Wut, das geheime, ruhige Konspiriren, das innere freche Denken, was diese Leute auszeichnet; es ist die mania anti-gouvernementalis.

Man versuche nur einmal, den Lebens- oder Bildungsgang solcher Menschen etwas genauer zu verfolgen. Das geht meist schon mit Schiller an, den sie auf den Schulen unter der Bank lesen. Es sind "die Räuber", die frechen Fräsen dieses unreifen Halb-Schenies — der gouvernementale Goethe verabscheute das Stük — die den jungen Leuten die Köpfe verrüken. Und wenn auch der Studienlehrer sich alle Mühe gibt, den Gegenstand sitlich, im Hinblik auf die sitliche Weltordnung — Gott erbarme sich dieser Braven! — zu wenden, so bleibt doch genug von dem Geist der Auflehnung, von dem „in tirannos!", das der freche Feldscher mit einem Löwen auf das Titelblatt zeichnete, um den zarten Jünglingen, welche diese geistige Kost neben Thomasius „Erste Religionsstufe" in sich aufnehmen, für immer das Samenkorn der Auflehnung, des frechen Negirens, welches dann später in Raserei ausbricht, in die Seele zu legen. Die "Räuber" müssten immer und unter allen Umständen und allerorts verboten werden, und solten nur auf Biblioteken und nur für Literarhistoriker, wo gegen eine Nachahmung genügende Sicherheit geboten ist, gelesen werden können.

Dann, auf den höheren Schulen, ist es besonders Kant und sein Sistem des Zurüknehmens der Aussenwelt in den Kopf, in das Denken, welches so junge Leute veranlasst, den ganzen Staat in sich hineinzufressen, und dort mit dem Höchsten und Heiligsten, mit dem gouvernement und den höchsten Würdenträgern — ja mit der geheiligten Person Seiner Majestät des jeweiligen Landesvaters — zu manipuliren, als mit Denkformen zu spielen, und inneren Unfug zu treiben. Nein, das kann nicht so weiter geduldet werden! Diese Leute kommen später alle zur Raserei. Dieses kritische Sistem hat seine schweren Gefahren für den Verstand der Untertanen. Diese Leute werden später alle manjakalisch. Kant selbst war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Der preussische Minister, Exzellenz von Wöllner, liess ihm sagen, er müsse sich auf das Äusserste gefasst machen, wenn er die Geschichte nicht gehen lasse (gemeint war Gefängnis oder Irrenhaus, je nachdem). Nein! — besser das Irrenhaus frisst diese Leute wahrhaftig und leibhaftig auf, als dass sie psichisch mittelst ihres kritischen Denkens den Staat auffressen und dort inneren Anarchismus und kritischen Landesverrat treiben. —

 Hat man also einen solchen Verdächtigen in foro zu untersuchen, und ihn auf Manie, mania simplex, hinauszuspielen — ich meine: ihn von der Seite der Anklage darzubieten —, so komt es vor Allem darauf an, dass man ein bischen in die Art des Angeklagten, zu reagiren, sich gesellschaftlich zu geben, oder Etwas von der Gemüts-Seite aufzunehmen, kurz in seine ganze frühere Krankheits-Geschichte eingeweiht sei. Meist sind es ja temperamentvolle, feurige und idealistisch angelegte Leute, die den schlimmen Pfad der Regierungs-Oposizion beschreiten. Und es komt nun darauf an, sie auszuholen und herauszukizeln. Dabei verfährt man gegenüber verschlossenen, wortkargen Menschen ähnlich wie die Jesuiten bei jungen Mädchen, wenn sie dieselben wegen Onanie examiniren. Geben leztere auf die Frage: "wie oft hast du's getan?" gar keine Antwort, so fragt der Jesuitenpater: "hast du's hundertmal oder zweihundertmal getan?". Darauf erschreken die armen Kleinen und sagen: "ach nein! höchstens acht- bis zehnmal". — So hier. Gelingt es, den Vorgeführten, dessen Manie man erweisen soll, so zu reizen und durch inquisitorische Fragen nach rein imaginativen Dingen, Notzucht, Unterschlagung, Päderastie etc. zur äussersten Wut zu entflammen, und so einen manjakalischen Anfall bei dem vielleicht leicht Erregbaren im Gerichtssaal selbst zu provoziren, dann nimt man gleich diese mania, diese zweite, experimentell erzeugte mania, als Beweismittel, und lässt die erste, die wissenschaftliche Manie, die mania simplex, fahren. Denn es ist durchaus nicht nötig, dass ein auf Konspirazjon gegen den Staat Verdächtiger an mania duplex leidet. Man nimt seine Manie, wo man sie findet. Und zur Beruhigung einer derartig flagranten Reizbarkeit, wie sie der Vorgeführte bewiesen, der vielleicht den ganzen Saal vollgespukt hat, sind mehrere Jahre Internirung, mindestens bis über die nächste Legislaturperjode, durchaus nicht zu viel. - Oskar Panizza, Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. Hilfsbuch für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc. zur Diagnose der politischen Gehirnerkrankung. München 1985 (Matthes & Seitz Debatte 21, zuerst 1898)

Wut Toben Sucht
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Synonyme