iergesellschaften
funktionieren praktisch alle nach dem Dominanz-System, das auf der
jeweiligen physischen Stärke ihrer Mitglieder basiert. Dieses System zeichnet
sich durch eine strenge Hierarchiebildung aus:
das starkste Männchen der Gruppe wird das Alpha-Tier genannt; ihm
folgt das zweitstärkste, das Beta-Tier, und so geht es weiter bis
zu jenem Tier, das in der Rangordnung den niedrigsten Platz einnimmt und
Omega-Tier genannt wird. Die Rangfolge wird im allgemeinen durch
Kampfrituale bestimmt; die Tiere niederen Ranges versuchen, ihren Status
zu verbessern, indem sie Tiere höheren Ranges herausfordern, denn sie wissen,
daß sie im Falle eines Siegs ihre Position verbessern. Ein hoher Rang bringt
gewisse Vorrechte mit sich: als erster Nahrung aufzunehmen, mit den Weibchen
der Gruppe zu kopulieren. Das schwächste Tier jedoch besitzt im allgemeinen
die Möglichkeit, den Kampf zu vermeiden, indem es eine Demutsstellung (eine
kauernde Haltung, Präsentation des Anus) einnimmt. ... Die Brutalität
und das Dominanzverhalten, die in den Tiergesellschaften allgemein verbreitet
sind, wird schon beim Schimpansen (Pan troglodytes) von grausamen
Willkürakten dem schwächsten Tier gegenüber begleitet. Dieses Verhalten
erreicht seinen Höhepunkt bei den primitiven menschlichen Gesellschaften,
und innerhalb der höher entwickelten Gesellschaften beim Kind und beim
jungen Heranwachsenden. Später kommt das Mitleid beziehungsweise die Identifikation
mit dem Leiden des anderen auf; dieses Mitleid wird sehr bald im Rahmen
des moralischen Gesetzes systematisiert.
- Michel
Houellebecq
,
Elementarteilchen. München 2001 (zuerst 1998)
Tiergesellschaft (2)