Tier, pantamorphisches   »Wie sieht es denn aus, was du als Tier bezeichnest?«

»Wie keins der Tiere, mit denen du verkehrt hast, keins, an das du dich erinnerst, oder das du mit deiner ganzen Phantasie für dein künftiges Königreich entwerfen könntest. Es hat Knochen aus Dampf, aber unzerstörbar; es hat überall Augen; eine Unzahl mächtiger Hörner; an allen Seiten stehen ihm Schwänze ab; stachlige Borsten wechseln mit wangenweicher Haut, es trägt die Merkmale beider Geschlechter - jedes erdenklichen Geschlechts. Es hat Blütenblätter wie eine Blume; es verwandelt den Himmel in einen Ozean, in dem es sich als weltweiter Pottwal tummelt; es ist Moos und gleichzeitig der Regen, der es ernährt und aushöhlt; wenn es seine Flügel spannt, gibt es keinen Ort im Universum, der nicht in die nächtliche Verzweiflung stürzt. Und dennoch glaube ich nicht, daß es der Herrscher ist. Du bist allein in der Grotte, und die Grotte ist eine der Formen - dem Stein entsprechend die Form des pantamorphischen Tiers. Geh nun voran im Morast, du schweigsamer Schmarotzer, denn er ist einstweilen dein Domizil.«

Nun gut; ich bin ein Schmarotzer. Es gibt viele Gesichtspunkte, von denen her ich weiß, daß ich gerade dieses schon immer sein wollte. Oder besser: die Lage eines Schmarotzers war mir schon immer wesensgleich und bestimmt meine Natur und Bedeutung. Ein Schmarotzer der Hölle - warum leugnen, daß ich mich als solcher erkenne? Ich möchte jedoch hinzufügen, daß ich als Schmarotzer - eine ziemlich untergeordnete Stellung, geringer und schwieriger als die eines Höflings - vielleicht auch einige Privilegien genieße, auf die ich sonst nicht hoffen könnte.

»Wie ich sehe, läßt du nicht ab von dem Bestreben, dir irgendwelche Privilegien zu verschaffen.«

»Hör zu: du hast gesagt, daß ich im inneren Morast der Bestie bin. Als Höfling hätte ich das nie erreicht. Und jetzt weißt du noch nicht einmal, ob dieses - die Bestie meine ich - der Herrscher ist!«

»Ich habe Grund anzunehmen, daß sie es nicht ist.«

»Bist du sicher?«

»Ich habe keinen Grund anzunehmen, daß sie es ist.«

»Gut. Dann laß uns aber auch noch etwas anderes annehmen: du bist überzeugt davon, nicht von der Art der Bestie, in der ich wohne, überzeugt zu sein - das sollte es doch wohl heißen. Die Bestie könnte alles sein. Also auch ein Höfling des Herrschers. Nun - als Schmarotzer kann ich mich im großen wandelbaren Körper dieses tierischen Dings dauerhaft einrichten. Nehmen wir einmal an, daß seine Verwandlungen nichts weiter sind als Spiele zum seichten und naiven Vergnügen seines Herrschers; daß er ein Hofnarr ist und ein unanständiger dazu, wenn man bedenkt, was du von seinen zahllosen Geschlechtern sagtest; daß er ein Moosgrund ist, auf dem der Herrscher einherschreiten kann; daß er mit allen seinen Schwänzen wedelt wie mit Fächern; daß er auf dem Grund der überhimmlischen Meere sein Korallenschloß verwaltet, daß seine Lederflügel, mit denen er die Welt blendet, nichts anderes sind als ein winziger Baldachin zu Ehren des wahren unerreichbaren Herrschers dieses Orts. Als Schmarotzer kann ich in seinen unendlichen Gedärmen wohnen und durch seine inneren Säfte, sein Blut und seine Lymphe, seinen Ichor und seinen Schlangenschleim schwimmen. Zwischen Füßen und Schmarotzer wechselnd werde ich seine Eingeweide und Atemwege durchwandern und dank der ungleichmäßigen Form seines großen Körpers werde ich mich vielleicht eines nicht allzufernen Tages in einem seiner Augen wiederfinden, wo ich, der winzigkleine und widerliche Schmarotzer, genau das sehen werde, was er sieht - er, der unter dem unendlichen Baldachin seiner Flügel thront -, ja möglicherweise sogar das, was du nie gesehen hast, der du dich nicht in die erlauchte Elendsgestalt eines schändlichen Schmarotzers verwandeln kannst.«

»Das Tier ist wandelbar, unstet und phantastisch. Und selbst wenn es das nur zum närrischen Vergnügen irgendeines Herrschers ist - wobei wir noch nicht einmal wissen, ob es überhaupt einen Herrscher gibt und nicht nur einen lügnerischen Ursurpator -, so wandelt sich doch sein Geschlinge - hört auf zu sein, verfliegt, vergeht und erscheint wieder als Blume, Halm oder Feder. Du selbst verwandelst dich und wirst dich unablässig verwandeln. Falls es dir je gelingen sollte, dich aus einem seiner Augen zu beugen, würdest du nichts anderes sehen als was er sieht: das Nichts, dessen vollständigste aber einsamste Ausnahme er ist. Wandere also weiter auf den schwankenden Pfaden des Morasts und horche als Schmarotzer auf das Fiepen jenes anderen Schmarotzers, der in dir wohnt: die ledergeflügelte Puppe. Es ist möglich, daß genauso wie du, der Schmarotzer, etwas zu wissen wähnst, auch sie, die Schmarotzerin des Schmarotzers, etwas weiß, was du nicht weißt.«   - (hoelle)

 

 Tiere, hypothetische

 

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