Themenwechsel   Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, aber schon nach fünfzig bis hundert Metern blieb er vor einer Kohlenhalde stehen, die den Prostituierten offenbar als spanische Wand diente.

Bestimmt kassiert der Lokomotivführer eine saftige Provision, dachte ich bei mir.

Und genau in diesem Augenblick erklang in der Luft das silberhelle Lachen der Solistin unter den Prostituierten. Als sie aufhörte zu lachen, schnalzte ich mit der Zunge und meinte zu Dagoberto, diese Frauen verschössen unnötigerweise ihr Pulver. Ich teilte ihm diese Beobachtung mit, um ihn seinerseits zu irgendeiner Stellungnahme zu bewegen, und auch, damit wir uns auf diese Weise ganz sachte Gesprächsthemen annäherten, die sich nicht immer um das Gleiche drehten.

»Sind Sie auch der Meinung«, fragte ich, »die Prostitution sei das älteste Gewerbe der Welt?«

Diese überaus ordinäre Frage erlaubte ihm, ganz wie ich gehofft hatte, einige allgemeine Bemerkungen über die Welt der Prostitution und des Geschlechtlichen. Dazu hatte auch ich einiges beizusteuern, aber bevor ich noch dazu Gelegenheit bekam, starrte er mir wieder in die Augen und erzählte mir, ehe ich mich versah, von den Großmäulern, die sich rühmen, es fünf oder sechs Mal hintereinander zu treiben.

Dieses Thema war mir zutiefst zuwider, und ich versuchte, das Gespräch auf andere Wege umzuleiten, weshalb ich erleichtert war, als die Stimme der Huren-Solistin wieder erklang. Ich sagte, man könne über diese Frau sagen, was man wolle, sie verfüge jedenfalls über eine engelsgleiche Stimme. »Da haben Sie nicht ganz unrecht«, meinte Dagoberto.

Und schon redete er über die menschliche Stimme als Musikinstrument. Er erklärte, sie funktioniere wie die Blasinstrumente, bei denen der Ton entweder durch ein pendelndes Luftblatt erzeugt werde, wie bei den Labialpfeifen, oder mit einem doppelten beziehungsweise einfachen Rohrblatt, es sei denn, wir beschränkten uns darauf zu flüstern oder zu flöten, denn in diesem Fall träten die Stimmbänder nicht in Aktion.

Während ich ihm zuhörte, kam mir wieder der Gedanke, er unterrichte vielleicht irgendwo an einem Konservatorium. Kein normaler Mensch, jedenfalls keiner, der von Musik nichts versteht, käme auf den Gedanken, die menschliche Stimme mit Labialpfeifen oder Rohrblattpfeifen zu vergleichen. Ich fragte, ob russische Chöre ihm gefielen, und er verneinte, sie machten ihn trübsinnig, ja, er bekäme dann mitunter sogar Lust sich umzubringen. Er ziehe die Wiener Sängerknaben vor, mit ihren reinen Stimmchen, und dann verbreitete er sich über den beklagenswerten italienischen Brauch, Kinder zu kastrieren, damit sie auch als Erwachsene jene spitze Stimme bewahrten, die eigentlich ein Teil der Kindheit ist. Mit diesen, allem Anschein nach ganz unschuldigen Worten, wollte er mir wahrscheinlich zu verstehen geben, daß auch er meine Stimme, für einen gestandenen Mann, als zu sehr in der Nähe des Diskant erklingend empfinde. Es wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen, daß sich jemand über meine Stimme beklagte und so, obwohl er es nicht ausdrücklich sagte, meine Männlichkeit in Zweifel zog.

»Was hätten Sie gemacht«, fragte mich Dagoberte unerwartet, »wenn man Ihnen als Kind die Eier weggenommen hätte?«   - Javier Tomeo, Unterhaltung in D-Dur. Berlin 1995

 

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