heaterpause Ich sitze im Theater zum «Tristan». Zwei Akte finde ich nicht hinein. Im dritten liegt Tristan todwund unter einem Baum seiner Burg. Und wie er aufspringt, halbirr: «Aus Lachen und Weinen, Wonnen und Wunden hab' ich des Trankes Gift gefunden », da habe ich die Tür. Wie biege ich mich, wie muß ich die Augen aufsperren, mich vorbeugen. Das ist nicht Theater. In mir ist es überhell, ich bin getroffen. In mir ist nur das Gefühl: Dies ist wahr. Das ist wahr.
In der Pause kauen und lutschen die Menschen in den Gängen. Eine dicke Madame
steht am Buffett, macht Bierflaschen auf; sie lachen und stoßen an. Einer nimmt
ein Brot, Ei mit Sardellen, beißt, zerrt; das Ei fällt ihm auf den Stiefel.
Sie ziehen Butterbrote aus den Taschen im Moment, wo die Saaltüren geöffnet
werden, stellen sich an Pfeilern, Wänden auf und essen gewaltig, knatterndes
Papier in den Händen. Ein dickes Ehepaar wandert vorbei; er verbeugt sich unaufhörlich
nach rechts und links. Ein Offizier mit Eisernem Kreuz und vollem Gesicht. Eine
kleine Mutter mit ihrer aufgeschossenen schüchternen Tochter. Ein griesgrämiger
Ehemann mit einem Kneifer, dicker Oberkörper, schlottrige Hosen; die Ehefrau,
unbehilflich und klein, wedelt mächtig ihre Handtasche. Zwei Herren schütteln
sich die Hände, kratzen sich die Scheitel. Drei käsefarbene Jünglinge gehen
nebeneinander, sprechen magisterlich über die Sänger. Ein schlankes hübsches
junges Mädel; gerade lange Beine hat sie, und nun wankt sie so, und mit ihren
Armen kann sie nichts anfangen. Sie werden furchtbar rasch dick, die Hüften
verrutschen ihnen, sie wissen sich nicht zu kleiden, viele Gesichter haben Pickel.
Und da steht vor ihrer Tochter eine ältere Frau, trägt eine fürchterliche weiße
Bluse, eine kolossale Kette hängt ihr bis zum Schambein herunter; sie sprechen
undeutlich aufeinander ein; die Backen sind beiden dick, voll Semmel. Und dann
gehen die Türen wieder auf. Drin bläst die Hirtenflöte. Und Tristan wirft sich
hoch: «Aus Lachen und Weinen, Wonnen und Wunden hab' ich des Trankes Gift gefunden»,
und singt - deutsche Musik, Musik dieser Deutschen.
- Alfred Döblin, Reise
in Polen. München 1987 (zuerst 1925)
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