Telegraphenlinie   Auf diesem steinigen Boden, der die eine Hälfte des Jahres vom Regen zerschunden wird und die andere Hälfte jeglichen Niederschlags entbehrt, wächst nichts außer dornigen, verkrümmten Sträuchern, und es gibt kein Wild. Als gestrandete Überreste einer jener Bevölkerungswellen, die in der Geschichte Zentralbrasiliens so häufig sind und die in einer großen Woge der Begeisterung eine Handvoll Abenteurer, Friedloser und Elender ins Innere des Landes spülen, um sie alsbald dort zu vergessen, von jedem Kontakt mit der zivilisierten Außenwelt abgeschnitten, passen sich diese Unglücklichen mit Hilfe persönlicher Schrullen an das einsame Leben in ihren kleinen Posten an, die jeweils aus ein paar Strohhütten bestehen und achtzig bis fünfhundert Kilometer voneinander entfernt hegen, eine Strecke, die sie nicht zu Fuß bewältigen können.

Jeden Morgen erwacht der Telegraf zu einem ephemeren Leben: man tauscht Nachrichten aus; der eine Posten hat die Lagerfeuer feindlicher Indianer gesichtet, die sich anschicken, ihn zu zerstören; m einem anderen sind seit mehreren Tagen zwei Paressi verschwunden, auch sie Opfer der Nambikwara, deren Ruf auf der ganzen Linie bekannt ist und die sie ohne allen Zweifel "in die himmlischen Wintergefilde«, na invernada do ceu, befördert haben. Mit makabrem Humor erzählt man sich von den im Jahre 1933 ermordeten Missionaren oder von jenem Telegrafisten, den man halb in der Erde vergraben gefunden hat, die Brust von Pfeilen durchbohrt und seinen Morsesender auf dem Kopf. Denn die Indianer üben auf die Angestellten der Linie eine morbide Faszination aus: sie sind eine tägliche Gefahr, welche die lokale Einbildungskraft ins Unermeßliche steigert, während gleichzeitig das Auftauchen der kleinen Nomadenhorden die einzige Abwechslung sowie die einzige Gelegenheit zu menschlichen Kontakten darstellt. Wenn sie sich ein- oder zweimal im Jahr bietet, fliegen die Scherze zwischen den potentiellen Mördern und den möglichen Opfern hin und her, m dem unwahrscheinlichen Jargon der Linie, der aus vierzig Wörtern halb portugiesischen, halb Nambikwara-Ursprungs besteht.

Abgesehen von diesen Zerstreuungen, die jedem der Beteiligten einen kleinen Schauer des Entsetzens den Rücken hinunterjagen, hat jeder Postenchef seinen eigenen Stil. Da gibt es den Schwärmer, dessen Frau und Kinder verhungern, weil er, wenn er sich entkleidet, um im Fluß zu baden, sich nicht enthalten kann, fünf Schüsse aus seiner Winchester abzugeben, um die Eingeborenen einzuschüchtern, die er auf beiden Ufern im Hinterhalt vermutet, jederzeit bereit, ihm die Kehle durchzuschneiden, und der auf diese Weise seine unersetzbare Munition erschöpft: dies nennt man quebrar bala, »die Kugel zerschlagen«. Dann gibt es den Boulevardier, einen Pharmakologiestudenten, der Rio verlassen hat und nun in Gedanken fortfährt, den Largo do Ouvidor zu persiflieren; aber da er nichts mehr zu sagen hat, beschränkt sich seine Konversation auf Grimassen, Zungen- und Fingerschnalzen sowie verständnisinnige Blicke: im Stummfilm könnte man ihn noch für einen Carioca* haken. Hinzu kommt der Weise, derjenige, dem es gelungen ist, seine Familie im biologischen Gleichgewicht zu halten mit Hilfe eines Rudels von Hirschtieren, die eine nahe Quelle aufsuchen: jede Woche schießt er ein einziges Tier; der Wildbestand bleibt erhalten, der Posten ebenfalls, doch seit acht Jahren (seitdem die jährliche Versorgung der Linie durch Ochsenkarawanen allmählich zum Erliegen gekommen war) haben sie nur noch Hirsch gegessen.   - (str2)

 

Telegraphie

 

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