Carl von Linné 1707-1778
Ein anderer Wahn als der unsrige: der Wahn eines Klassikers.
Klar, dürr und lakonisch. Damals war alles viel kleiner. Er
war fast ein Zwerg, kribblig, ruhelos, wirbelnd, doch der
bernsteinfarbene Blick unter der schweren Perücke war durchdringend
und kalt: jedes zufällige Merkmal muß man zurückweisen.
Sammeln, Bestimmen, Benennen. Alle dunklen Ähnlichkeiten
sind nur zur Schande der Wissenschaft ersonnen worden. Terminologische
Messer, um aus dem Fleisch einer blinden zuckenden Welt herauszuschälen
das Immergleiche.
Inventare, Nomenklaturen, Repertoires. Die Natur ein zeitloses
Rechteck, ein unbeweglicher Raster. Handkolorierte Stiche, Stammbäume,
Gesetzestafeln. Im Schaum der Erscheinungen steht diese Sprache
still. Eine Grammatik des Meßbaren: So dick wie ein Haar,
so tief wie ein Nabel, von der Gestalt einer Vulva, gewunden
wie eine Ohrmuschel. Klassifizierend, minutiös und »sinnreich«.
Tag und Nacht an der Arbeit, auf daß er keine Minute verlor
solang er in Uppsala blieb.
In einem kargen Land, im schäbigsten Dixhuitième: steinige
Jugend, kein Geld für Schuhsohlen, Essen aus fremden Tellern,
ein immerfort kaltes Bett, Winkelzüge um Titel und Taler. Endlich
die Elucht in das Unbewohnbare. Dort wo fast nichts mehr lebt,
wird er fast lebendig. Eappland 1745: Sommer und Winter gesehen
an einem Tag, Wolken durchschritten, das Ende der Welt aufgesucht, die
Nachtherberge der Sonne. In der Kälte blüht sein trockenes
Herz. Rentiermoos, Tundra, arktische Freiheit.
Dann wieder die Hofschranzen, die Gärten und Kabinette. Höllische
Träume, Grübeleien, »sinnreiche« Finsternis. Aus den Bernsteinaugen
leuchtet der Wahn. Unbeweglich. Endlich Professor, Leibarzt
der Königin (eine glückliche Hand bei der Heilung von Brustkrankheiten),
Präsident der Akademie. Der Polarstern am schwarzen Bande. Alles
zu spät. Mißstimmung, Argwohn, dumpfe Abende in Gewächshäusern,
dann der Schlagfluß. Die letzten vier Jahre verbringt er halb
gelähmt, in trauriger Schwäche des Körpers und des Geistes.
Niemand wußte, daß er, der soviel Beweise der Vorsehung Gottes unter
den Naturalien aufgefunden, seit vielen Jahren ähnliche Beyspiele
in den Schicksalen der Menschen gesamlet; daß auch die Wunder,
die Sünden der Taxinomie gehorchen. Verfolgungswahn, Zwangsvorstellungen.
Neben der histoire admirable des plantes die Naturgeschichte
der Krankheiten und der Laster: Nemesis
divina, das Nachtbuch, in einem Futteral aufbewahrt, voller
Vorzeichen, Omina, Ahnungen. Lektüre für Strindberg. Empirische
Theologie. Der Forscher als Spitzel Gottes.
Alles hat seine Ordnung: Brandstiftung Unzucht Kindsmord Verrat Arglist
und Giftmischerei. Melander, Professor der Theologie, intrigiert
im Konsistorium, bis sechs Uhr abends sein Kopf sich auf den
Rücken dreht. Stürzt, wird heimgetragen, sieht nie den Tag an
dem er gesund wird, Gott ist ein zeitloses Rechteck, seine
Vergeltung ein Raster, unbeweglich: Hinrichtung Feuer Fenstersturz
Abgeschlagener Kopf. Frau Psilanderhjelm, liederlich, legt
sich zu einem Hofmann in Stockholm. Krankt am Unterleib, stirbt
bald. Man öffnet sie, findet an Kindes Statt einen Stein.
So kommt alles ans Licht. Der Sünder verfault bei lebendigem
Leib. Eine ziemlich einförmige Lebensweise. Die Strafen werden
gesammelt, bestimmt und benannt. Minutiös und »sinnreich« wie
der Mechanismus der Fortpflanzung: Faden Beutel und Pollen, Samen
Griffel und Narbe. Systema sexualis: eine tödliche Obsession. Das
Leben existiert nicht; es existieren nur Lebewesen. Immer
kleiner werdend grübelt der große Greis, unbeweglich, einer
göttlichen Rache nach, die logisch wäre. »Sinnreich«. Sinnlos.
»Sinnreich«. In seinem Wahn kommen »wir« nicht vor.
Die Blume, die seinen Namen trägt, Linnaea borealis L., ist
unscheinbar, winzig, und fast ganz weiß.
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