aubheit  Eine mühselige, schwierige Aufgabe lädt die Philosophie auf sich, wenn sie die Heilung der Geschwätzigkeit übernimmt. Ihre Arznei, das Wort, heilt nur Menschen, die hören können; der Schwätzer aber hört auf nichts und niemand, denn er redet immer. Dieses Unvermögen zu hören ist also das erste Übel, das aus dem Unvermögen zu schweigen entspringt. Es ist eine freiwillige Taubheit von Menschen, die, wie mir scheint, der Natur einen Vorwurf daraus machen, daß sie zwar zwei Ohren, aber nur eine Zunge haben. - (plu)

Taubheit (2) Es kommt kaum vor, daß ein Mensch ohne Anstand und Ehre Geist besitzt: ein gerader, durchdringender Verstand führt zuletzt immer zu Ordnung, Rechtschaffenheit und Tugend: Einsicht und Scharfsinn fehlen aber dem, der starrköpfig im Schlechten wie im Falschen beharrt; vergeblich sucht man ihn durch spöttische Reden zu bessern: die andern merken, daß man ihn damit meint, er selbst erkennt sich nicht darin; es ist, als wenn man einem Tauben Beleidigungen sagte. Zum Besten der Menschen von Ehre und zum Nutzen der Allgemeinheit möchte man jedem Schurken ein wenig Einsicht und Verstand wünschen.  - (bru)

Taubheit (3)  Er warf einen Blick auf den Rundweg, an dem ein paar Autos gänzlich geräuschlos vorbeifuhren. »Vielleicht werde ich taub, aber gerade jetzt, heute?« fragte er sich und folgte immer weiter den Mauern, den Ruinen, den Abfallen. Plötzlich stand er vor dem Eingang zu einer Höhle, die wie eine Vertiefung in Form einer Felsnische weit in die Mauer hineinführte. Er dachte sofort an eine Wachstube, wie es sie hier doch geben mußte, vielleicht auch zur Bewachung der Thermen, und sagte das Wort Tepidarium vor sich hin, was die Erschlaffung in ihm steigerte. In der Nische leuchtete ein Streichholz auf, da er jedoch am Eingang stand, sah er dank jenes violetten Lichts, daß dort jemand war. Da war eine sehr dicke Frau, die fast auf der Erde lag, sie trug bis zu den Knien heruntergerollte Strümpfe, und man sah ihre Schenkel. Es war eine alte Frau, die wie eine römische Haushälterin oder Portiersfrau aussah. Neben ihr stand, an einen Pfeiler der Nische gelehnt, ein großer junger Mann mit Kraushaar, und man sah, wie sein halb einladendes, halb angewidertes Lächeln im violetten Dunkel weiß schimmerte. Auch er war Äthiopier, er ähnelte sogar sehr dem mit der Decke von vorhin. Mit seinem Stock trat der Mann ein; er hörte nichts, obwohl die beiden redeten. Die Frau lag unbequem ausgestreckt auf der Erde und stützte den Kopf auf eine Hand. Ihm war, als höre er den Namen Ali, als er den glänzenden und engen Anzug des Äthiopiers betrachtete, der in einem Sprung vorschnellte. Die Trägheit des violetten Lichts am nächtlichen Himmel und die wie ein schmerzstillendes Mittel wirkende anhaltende Taubheit führten dazu, daß der Mann nicht gleich bemerkte, daß der Äthiopier ihn mit einem Messer getroffen hatte. Dann sah er wieder in seiner Hand das Messer, und es sah für ihn wie ein normales Küchenmesser aus, blutbeschmiert. Dann fühlte er, wie es erneut in seinen Bauch eindrang, in die Brust, in den Hals, während die weißen Zähne des Äthiopiers nahe bei ihm waren; und der Mann, immer noch gefangen in jener völligen Taubheit, fast ohne Schmerz zu verspüren (die Frau war aufgestanden und hatte sich abseits gestellt), stieß in vollen, regelmäßigen Stößen Blut aus, wie in hellem, aber auch dunklem Einklang mit seinem Herzen.   - Goffredo Parise, Alphabet der Gefühle. Berlin 1997 (zuerst 1972, 1982)

Taubheit (4)  Nach der höflichen Meinung Mancher sind die Toten weniger doof und feindselig als vielmehr taub; nach ihrer Ansicht ist der Tod eine unerhört lärmende Explosion, aus der man mit dem irreparablen Verlust des Gehörs hervorgeht: weswegen jene glauben, einen ungemein weich abgedichteten Ort zu bewohnen und unsere Stimmen nicht wahrnehmen und vielleicht gar keine Ahnung davon haben. Schließlich nehmen manche an, daß die Toten durch den Frost der von ihnen bewohnten Räume völlig abgestumpft und gefühllos geworden sind, und schlagen als vorbereitende Maßnahme zu irgendwelchen Gesprächsversuchen vor, diese Örtlichkeiten erst einmal durch "Wärmeraketen" anzuheizen.

Manche halten daran fest, daß die Widerspenstigkeit der Toten nicht von Tölpelhaftigkeit, hochmütiger Abneigung oder unglückseliger Taubheit herrühre: vielmehr von erdrückender Ohnmacht, unüberwindlicher Behinderung, von Betrug und geheimer Knechtschaft: durch wen verhängt oder geduldet, ist hier unangebracht zu diskutieren.   - Giorgio Manganelli, Diskurs über die Schwierigkeit, mit den Toten zu sprechen. In: G. M., An künftige Götter. Sechs Geschichten. Berlin 1983 (zuerst 1972)

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