agtraum
Also sanfte weiche und zart-gefilterte Nachmittagshelligkeit,
in der ich dort ging, für mich, hellwach, sehr bewußt, (: verdammtnochmal, warum
ist das eingerissen, daß verträumt abwesend bedeutet?), (: verträumt hellwach
und tagträumerisch, das heißt doch: gesteigertes Bewußtsein, denn nun ist eine
andere Qualität des Daseins, des bewußten Zustandes hinzugekommen das verträumte
Hellwachsein des Tagtraums!), (:oh nee, ich meine nicht historische Reminiszenzen,
ich meine nicht einen abrufbaren Wissenskatalog, ich meine: Achtung, Aufnahme,
Foto, innen!), und weiter durch das zarte Nachmittagslicht in kleinen engen
vergammelten Straßen mit erbärmlichen Fiats, mit Gurkendosen, in denen Blumen
stehen, an abblätternden Mauern entlang, hellwach-verträumt. - (
rom
)
Tagtraum (2) Von dem massigen Tisch mit den Schnitzereien und Einlegearbeiten dachte ich mir das fast als barock zu bezeichnende Schmuckwerk ganz einfach weg und stellte mir den Tisch statt dessen als mächtigen, von seltsamen Wesen bewohnten Berg vor. Plötzlich waren auch die anderen Gegenstände in dem Zimmer lauter Berge, zwischen denen ich in einem Flugzeug herumflog.
»Wackel nicht so mit den Beinen, mir wird ja ganz schwindlig«, klagte meine Großmutter, die mir gegenübersaß.
Ich wackelte keineswegs mit den Beinen, sondern mein Flugzeug verschwand
lediglich in den Schwaden, die meine rauchende Großmutter in die Luft blies,
und ich tauchte in den von Hasen, Schlangen und Löwen bevölkerten Wald im Teppichmuster
und damit in ein neues Comic-Abenteuer ein, löste dort einen Brand aus, tötete
ein paar Leute, ritt auf einem Pferd, dachte wieder daran, daß ich die Murmeln
meines Bruders in seiner Abwesenheit verschossen hatte, und da ich zugleich
auch immer auf Geräusche im Haus lauschte, schloß ich aus dem Klicken der Lifttür,
daß unser Pförtner Ismail m unser Stockwerk gefahren war, und im nächsten Augenblick
war ich schon wieder mitten in einer Indianergeschichte. Genüßlich malte ich
mir aus, ich würde ein Haus anzünden und dann auf die Leute, die sich aus den
Flammen zu retten suchten, eine Gewehrsalve abfeuern, oder aber, ich sei selbst
in dem brennenden Haus und würde einen Tunnel graben, um mich so zu befreien.
Wenn ich zwischen der nach Zigarettenrauch stinkenden Gardine und der Fensterscheibe
langsam eine Fliege zerquetschte und das halbtote Tier durch das Gitter des
Heizkörpers fallen ließ, stellte ich mir dabei einen Schurken vor, der seine
verdiente Strafe bekommen hatte. - Orhan
Pamuk, Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Frankfurt am Main 2011
Tagtraum (3) Ich male mir aus, daß mich ein unerwarteter und glückhafter Staatsstreich zum Diktator der ganzen Welt macht. Ich verfüge über alle Macht. Niemand kann sich meinen Befehlen widersetzen. Meine ersten Maßnahmen in diesem Tagtraum richten sich immer gegen die Allmacht der Medien, die Quelle aller Ängste.
Wenn mich angesichts der Bevölkerungsexplosion, deren schlimme Folgen ich in Mexiko täglich sehe, Panik ergreift, stelle ich mir vor, wie ich ein Dutzend Biologen zu mir bestelle und ihnen - ohne Widerrede zu dulden - befehle, einen fürchterlichen Virus auf den Planeten loszulassen, der ihn von zwei Milliarden Bewohnern befreit. Erst sage ich noch ganz mutig: „. . . auch wenn ich selbst angesteckt werden kann." Aber dann versuche ich mich heimlich aus der Affäre zu ziehen, lege Listen der zu rettenden Personen an, einige Mitglieder meiner Familie, meine besten Freunde, die Familien und die Freunde meiner Freunde. Ich komme zu keinem Ende. Ich gebe auf.
In letzter Zeit, seit etwa zehn Jahren, habe ich mir auch vorgestellt, wie
ich die Welt vom Öl befreie, der anderen Quelle allen Unglücks. Ich lasse in
den wichtigsten Erdölgebieten unterirdisch fünfundsiebzig Atombomben hochgehen.
Eine Welt ohne Öl erschien mir immer - und erscheint mir auch heute noch — als
ein mögliches Paradies nach dem Vorbild meiner mittelalterlichen
Utopie. Aber mir scheint, daß mit den fünfundsiebzig Atombombenexplosionen nicht
alle Probleme zu lösen sind und man noch etwas abwarten muß. Vielleicht kommen
wir eines Tages noch einmal darauf zurück. - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am
Main 1985
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