Täterprofil    Eine halbe Stunde lang drehten sie sich im Kreis und fanden keinen Ausweg. Den fanden sie erst, als sie nicht mehr danach suchten. Wenn sie in Silvano nicht das Ungeheuer erkennen konnten, mußten sie ihn aufgeben. Wenn sie Silvano aufgeben mußten, mußten sie auch die Beretta 22 aufgeben, die er 1968 verwendet hatte. Deshalb sprachen sie die Ballistik- und die Obduktionsberichte noch einmal durch, hofften, dort eine Lücke zu finden, aus der man hätte schließen können, daß die Delikte nicht stets mit der gleichen Waffe verübt worden waren. Eine solche Lücke fanden sie nicht, aber der Ausweg aus dem ewigen Kreislauf lag vor ihnen. Dort, wo er immer gewesen war, direkt vor ihrer Nase. Reine Glückssache, ihn zu erkennen, zumal sie inzwischen frustriert und müde waren, und trotzdem fanden sie ihn. Von 1974 an war jedes der Verbrechen in ihren Akten mit den dazugehörigen Ballistik- und Obduktionsberichten aufgeführt. Der Maresciallo jedoch nahm den Bericht über den Mord von 1968 aus Romolas Aufzeichnungen, wohingegen Fer-rini den Bericht über den Mord von 1974 aus der Akte ihres Verdächtigen hervorzog. Beide begannen hektisch halblaut zu lesen, und plötzlich stockten beide. Da stand über 1968: »Die Opfer wurden viermal getroffen, und die Eintrittswunden liegen bei beiden sehr dicht nebeneinander, ausgenommen ein in den Arm der Frau abgefeuerter Schuß.« Und über 1974: »Die weibliche Leiche wies drei Schußwunden im rechten Arm auf, die für den Tod der Frau nicht ursächlich waren. Sie war mit einem Messer getötet worden.«

Silvano war 1968 ein guter Schütze gewesen und hatte gründliche Arbeit geleistet, wie man es bei seiner Entschlossenheit nicht anders erwartete. Vier Kugeln für den Mann, drei für die Frau, die Eintrittswunden dicht nebeneinander. Jeder Schuß ein Treffer, effizient, zwei wehrlose Opfer, beide tot, und eine Kugel für Sergio, damit dieser gestehen konnte. Vielleicht war die Waffe ja die gleiche wie 1974, nur war die Hand, die sie führte, die eines anderen Täters. 1974: ein schlecht ausgeführter Mord, ineffizient, die Tat zu spät begonnen, als das Pärchen sich bereits geliebt und aus der Umarmung gelöst hatte. Dort, in dem winzigen, begrenzten Raum, in dem sich die beiden Menschen befanden, nur Gedanken füreinander hatten und völlig arglos waren, sogar unter solchen Bedingungen hatte er die Tat schlecht ausgeführt und mußte das Mädchen erstechen, um sie wirklich zu töten. Hier war ein Täter am Werk gewesen, der sich Silvanos Waffe hatte leihen oder stehlen können, ein Täter, der auf irgendeine Weise mit Silvano und dem Mord von 1968 in Zusammenhang stand. Hier war der Mensch, auf den das psychologische Täter-profil des Ungeheuers paßte. Ein junger Mensch, wohl fähig, sich eine Waffe zu beschaffen, aber doch nicht fähig, sie richtig zu benutzen. Ein schwacher Mensch, zerstört und voller Rachegefühle, der Paare haßte, die sich liebten, oder der die Welt haßte. Oder Silvano haßte.   - Magdalen Nabb, Das Ungeheuer von Florenz. Zürich 1997

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