Süßigkeiten, britische  «Er war meine ganze Gesundheit», pflegt sie oft zu sagen. «Seit er von mir gegangen ist, mußte ich eine regelrechte Hexe werden, aus reiner Selbstverteidigung.» Aus der Küche dringt der Geruch frisch aufgeschnittener und gepreßter Limonen. Darlene kommt und geht, sucht nach diversen Heilkräutern, fragt, wo das Seihtuch steckt, «Tyrone, hilfst du mal runterheben, nein, weiter, das hohe Einmachglas, dank dir, Schatz», und zurück in die Küche, ein rosa Huscher, knisternde Stärke. «Ich bin hier die einzige, die noch über ein Gedächtnis verfügt», seufzt Mrs. Quoad, «wir ergänzen einander, verstehn Sie. »Hinter einem tarnenden Kretonnedeckchen bringt sie eine große Schale voller Geleefrüchte zum Vorschein. «Hier bitte», strahlend, «greifen Sie zu! Wine Jellies, Vorkriegsware!»

«Jetzt kann ich mich genau an Sie erinnern - der heiße Draht zum Markenamt!» Aber er weiß, noch vom letztenmal, daß ihm Galanterie jetzt nicht mehr helfen kann. Damals hatte er nach Hause an Nalline geschrieben: «Die Engländer sind irgendwie seltsam veranlagt, Mom, wenn es darum geht, wie etwas schmeckt. Sie sind nicht so wie wir. Vielleicht liegt das am Klima. Sie stehen auf Sachen, von denen wir nicht einmal träumen würden. Junge, Junge, manchmal dreht's einem richtig den Magen um. Neulich hab ich eins von den Dingern probiert, die sie ‹Wine Jellies› nennen. Das ist die Vorstellung, die sie hierzulande von Süßigkeiten haben, Mom! Man müßte 'ne Möglichkeit finden, diesem Hitler ein paar davon zu verfüttern, dann wäre der Krieg morgen vorbei!» Und nun steht er also wieder vor diesen rötlich-tödlichen Gelatinedingern und nickt Mrs. Quoad, er hofft, verbindlich, zu. Auf den Bonbons stehen in flachem Relief die Namen verschiedener Weinsorten geschrieben.

«Dazu dieser leichte Hauch Menthol», Mrs. Quoad steckt sich eines in den Mund, «einfach köstlich!»

Slothrop sucht sich eins aus, auf dem Lafite Rothschild steht und stopft es sich in die Fresse. «Oh, yeah. Yeah. Mmmm. Großartig.»

«Wenn Sie etwas wirklich Ausgefallenes wollen, dann kosten Sie doch einmal den Bernkastler Doktor. Oh, waren Sie das nicht, der mir diese zauberhaften amerikanischen schleimigen Ulmendinger mitgebracht hat, die nach Ahorn schmecken, aber mit einem Schuß Sassafrasöl-»

«Slippery Elm. Du liebe Güte, das tut mir aber leid. Gestern sind sie mir ausgegangen.»

Darlene kommt mit einer dampfenden Kanne und drei Tassen auf einem Tablett herein. «Was ist das?» fragt Slothrop, etwas voreilig.

«Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß, Tyrone.»

«Stimmt auffallend», nach einem kurzen Nippen, bei dem er nur wünscht, sie hätte mehr Limonensaft oder sonstwas genommen, um diesen grauenhaften bitteren Grundgeschmack zu überdecken. Diese Leute sind wirklich wahnsinnig. Natürlich auch ohne Zucker. Er greift zur Bonbonschale und grapscht sich ein schwarzgeripptes Stück Lakritze, das noch am unverfänglichsten aussieht. Aber genau, als er hineinbeißt, wirft Darlene ihm und dem Bonbon einen merkwürdigen Seitenblick zu - tolles Timing, das Mädchen - und sagt: «Oh, ich dachte, die wären wir alle losgeworden», ein fröhlicher Genieblitz, frei nach Gilbert und Sullivan, dieses gedehnte dieee, «vor Jahren schon!», in welchem Augenblick Slothrop auf die flüssige Wabbelfüllung stößt, die nach Mayonnaise mit Orangenschalen schmeckt.

«Jetzt haben Sie mir doch die letzte von meinen Marmeladesurprisen weggeschnappt!» ruft Mrs. Quoad, die gerade mit der Fixigkeit eines Taschenspielers ein lavendelbestreutes, eiförmiges Etwas aus lindgrüner Latwerge auf den Tisch gezaubert hat: «Dafür kriegen Sie jetzt keine von diesen deliziösen Rhabarbertoffees.» Und hinein damit in ihren Mund, das ganze Stück auf einen Sitz.

«Geschieht mir ganz recht», bescheidet sich Slothrop, was immer er damit sagen will, und nippt an dem Kräutertee, um den Geschmack des Mayonnaisebonbons loszuwerden. Uuuups, das war genau verkehrt, denn schon füllt sich sein Mund aufs neue mit grauenhafter, alkalischer Verwüstung, die aufsteigt bis zum weichen Gaumensegel und sich dort verschanzt. Darlene als Florence Nightingale reicht ihm ein hartes, rotes Drops in Form einer stilisierten Himbeere ... mmh, das merkwürdigerweise auch nach Himbeere schmeckt, obwohl ihm Slothrop keine Zeit läßt, die Bitterkeit zu lindern. Ungeduldig, beißt er es auf und weiß in diesem Augenblick, verdammter Trottel, daß sie ihn wieder rangekriegt haben: heraus und über seine Zunge fließt die allerverfluchteste, kristalline, Gott im Himmel, reine Salpetersäure muß es sein, «Oh, das ist wirklich sauer!», er bringt den Satz kaum über die Lippen, so sehr hat es ihm den Mund zusammengezogen, genau der gleiche üble Streich, den Hop Harrigan immer dem Tank Tinker spielte, damit er aufhörte, auf seiner Okarina zu blasen, ein schäbiger Trick schon damals, doppelt verwerflich aber, wenn er von einer alten Lady kommt, die zu unseren Verbündeten gehören will, Scheiße, nicht einmal sehen kann er mehr, so hoch ist es in seine Nase gestiegen und löst sich nicht mehr auf, egal, was es nun sein mag, wütet weiter auf seiner schrumpfenden Zunge, knirscht wie zermahlenes Glas zwischen den Backenzähnen. Mrs. Quoad zelebriert indessen mit emsigzierlichen Bissen ein Petit four auf Kirsch-Chinin-Basis und strahlt die jungen Leute quer über die Schale hinweg an. Slothrop, alles vergessend, greift abermals nach seiner Teetasse. An einen ehrenhaften Rückzug ist nicht mehr zu denken. Darlene hat weitere Einmachgläser voller Süßigkeiten aus dem Regal geholt, und schon taucht er, eine Reise zum Mittelpunkt eines feindlichen Kleinplaneten, in ein neues, gigantisches Konfekt ein, krunsch durch die Schokoladenkruste und den Mantel aus durchdringend mit Eukalyptus parfümiertem Fondant bis zum Kern, der aus phantastisch klebrigem Gummiarabikum mit Weintraubengeschmack zu bestehen scheint. Er fingernagelt ein Klümpchen davon zwischen seinen Zähnen hervor und starrt es sinnend an. Es ist intensiv purpurrot gefärbt.

«Langsam kapieren Sie's!» Mrs. Quoad wedelt ihm mit einem marmorierten Konglomerat aus Ingwerwurzel, Buttertoffee und Anissamen zu. «Sie müssen auch mit den Augen genießen! Warum seid ihr Amerikaner nur so gierig!»

«Hm», mummelt er, «liegt wohl daran, daß wir's nicht komplizierter haben als Hershey-Schokolade ...»

«Oha, versuch mal das», kollert Darlene, hält sich den Hals und taumelt gegen ihn.

«O Mann, das wird was geben», ungläubig greift er nach der unappetitlich aussehenden bräunlichen Neuheit, einer exakten Eins-zu-vier-Replik einer Mills-Handgranate, Hebel, Zapfen, alles dran. Sie gehört zu einem ganzen Arsenal von patriotischem Naschwerk, das noch aus der Zeit vor der Zuckerrationierung stammt und neben der Granate, wie ein Blick ins Einmachglas zeigt, noch eine 0,455er Webley-Signalpatrone als grünrosa gestreifte Sahnekaramelle, eine Sechs-Tonnen-Sprengbombe aus silbern gesprenkeltem blauem Gelee und eine Panzerfaust in Lakritze umfaßt.

«Nun mach schon», greift Darlene doch buchstäblich nach seiner Hand, um ihm das Praliné in den Mund zu stopfen.

«Ich wollte erst mal den Anblick genießen, wie Mrs. Quoad eben sagte.»  «Und vorher zerdrücken gilt nicht, Tyrone!»

Unter ihrer Tamarindenglasur entpuppt sich die Eierhandgranate als übersüßer, mit Pepsin aromatisierter Nougat, der mit stechend-scharfen Kubebenbeeren gestopft ist und eine Füllung aus zähem Kampfergummi umschließt. Es ist unaussprechlich grauenhaft. Die Kampferdünste machen Slothrop schwindeln, Tränen strömen aus seinen Augen, seine Zunge ist ein hoffnungsloser Holokaust. Kubeben! Das Zeug hat er früher einmal geraucht! «Ver-gif-tet...» kann er gerade noch krächzen.

«Nun zeigen Sie doch ein wenig Rückgrat», befiehlt Mrs. Quoad.

. «Aber wirklich», flötet Darlene durch zungensanfte Karamelschichten hindurch, «denk daran, daß wir im Krieg stehen. Und jetzt dieses hier, Liebling, brav den Mund aufmachen ...»

Zwar kann er durch die Tränenschleier kaum erkennen, was auf Ihn zukommt, aber er hört Mrs. Quoads lüsternes «mnjam, mnjam, mnjam» jenseits des Tisches und diesseits Darlene kichern. Es ist groß und weich wie ein Marshmallow, aber irgendwie - wenn sein Gehirn jetzt nicht endgültig aussetzt - schmeckt es nach Gin. «Wasndas?» mampft er mühsam.

«Ein Gin-Marshmallow eben», sagt Mrs. Quoad.

«Auuuuu ...»

«Oh, das ist noch gar nichts, nehmen Sie mal eins von denen -» In einem masochistischen Reflex mahlen sich seine Zähne durch eine harte, säuerliche Stachelbeerhülle und treffen auf eine quellende Unannehmlichkeit aus, er hofft es ist Tapioka, leimigen Klümpchen von irgendwas, das mit Gewürznelkenpulver gesättigt ist.

«Noch ein Schlückchen Tee?» schlägt Darlene vor. Slothrop windet sich in Hustenkrämpfen, nachdem ihm Gewürznelken in die Luftröhre geraten sind.

«Scheußlicher Husten das!» Mrs. Quoad bietet ihm eine Dose mit der unglaublichsten aller englischen Hustenpastillsn an, der Meggezone. «Darlene, dein Tee ist vorzüglich, ich kann richtig fühlen, wie mein Skorbut zurückgeht.»

Die Meggezone wirkt, als ob einem ein Schweizer Alp gegen den Kopf gedonnert würde. Sofort beginnen mentholene Eiszapfen vom Dach der Slothropschen Mundhöhle zu wachsen.. Eisbären krallen sich in die verharschten Alveolentrauben seiner polaren Lungen. Sein Zahnschmelz schmerzt zu stark, als daß er noch atmen könnte, selbst durch die Nase, selbst mit der Nase, Krawatte gelockert, im Halsausschnitt seines olivgrauen Unterhemds.   Benzoedämpfe sickern ihm ins  Gehirn; sein  Kopf schwebt auf einem Halo aus Eis.   - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981

 

Ernährung, englische Leckereien Süßigkeiten

 

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