Sünder  Seine Lippen sprachen keine Verse mehr, wilde Schreie, gemeine Worte, bis dahin unterdrückt, stürzten aus seinem Hirn, brachen gewaltsam hervor. Sein Blut raste. Er irrte durch dunkle, schmutzige Straßen, sah in dunkle Straßen und Torwege, lauschte gierig auf jeden Laut. Er stöhnte auf wie ein hungriges, auf Raub ausgehendes Tier. Er wollte sündigen mit jemandem seiner Art, wollte ein anderes Wesen zwingen, mit ihm zu sündigen, wollte jauchzend mit ihm die Sünde genießen. Er fühlte, wie aus der Finsternis ein dunkles Etwas sich auf ihn zu bewegte, unwiderstehlich, kaum faßbar, mit dem Klang murmelnder Wellen; fühlte, wie es in ihn drang, ihn füllte. Und das Murmeln verfolgte ihn, ließ ihn nicht los, durchdrang sein ganzes Wesen. Wie das Murmeln einer Menge klang es, das im Schlaf an unser Ohr dringt. Und während er den tödlichen Schmerz dieses Durchdringens erlitt, krampfte er die Hände ineinander und biß die Zähne zusammen. Er streckte auf der Straße die Arme aus, wollte die fliehende Gestalt, die ihm auswich, die ihn lockte, fassen: und der Schrei, den er so lange in der Kehle unterdrückt hatte, brach von seinen Lippen. Brach heraus aus ihm wie der wilde Schrei der Verzweiflung aus einer Hölle von Verdammten, verklang in einem seufzenden, wilden Flehen, in einer Klage über ungerechte Verlassenheit; und dieser Schrei war nur das Echo eines gemeinen Geschmiers, das er auf der tropfenden Wand eines Pissoirs gesehen hatte. Er war in ein Labyrinth enger und schmutziger Straßen geraten. Aus den schmutzigen Gassen drangen heisere, streitende Stimmen, tönten die Lieder Betrunkener. Furchtlos ging er weiter, fragte sich, ob er wohl in das Judenviertel geraten sei. Frauen und Mädchen in langen Kleidern mit lebhaften Farben gingen über die Straße, von einem Hause zum anderen, müßig und duftend.  - James Joyce, Jugendbildnis des Dichters. Frankfurt am Main 1967 (zuerst 1916)
 
 

Sünde

 

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