Studentin

 

- Milo Manara

Studentin (2)  Inmitten der Menschenmenge, die den U-Bahn-Schacht verließ, hatte ich sie plötzlich zu sehen geglaubt; es war die Studentin, die mir unter dem Publikum der Küchen- und Wohnzimmerlesungen in der sogenannten Szene aufgefallen war. Oder war sie es nicht... ich hatte sie bisher zuwenig beachtet, sie hatte ein etwas zu glattes, ausdrucksloses Gesicht, ein offenes Gesicht, das aber gleichzeitig distanziert und schwer zu erreichen war,- ich hatte zu dieser Generation überhaupt noch keinen Zugang: es war etwas in dieser Generation, das weder Männchen noch Weibchen war. Sie war schon an dem Fenster des Cafés vorüber, als ich mich zu erinnern glaubte, daß ich mit ihr schon ein paar Worte gewechselt habe: freilich nur belanglose Redensarten ... es war ihr wohl aufgefallen, daß ich nicht den Berliner Dialekt sprach, sie hatte mich daraufhin angesprochen ... jetzt meinte ich, daß jemand, der in Ostberlin wohnte, mich nach einem solchen Umstand kaum befragt hätte, jedenfalls in der Berliner Szene nicht, wo alle Himmelsrichtungen vertreten waren: es war eine typisch Westberliner Frage!

Ich faßte die Idee, hinauszulaufen und sie anzusprechen; sie war langsam gegangen, ich konnte sie noch einholen. Ich war schon draußen, noch ehe ich meine Einwände gegen den Gedanken ganz unterdrückt hatte; in einiger Entfernung erkannte ich sie an den kleinen sicheren Schritten, mit denen es ihr gelang, schnurgerade durch das hektische Menschengewühl zu schreiten. Wie in einer Eingebung drehte sie sich halb nach mir um, ich winkte ihr zu, doch sie wandte den Kopf zurück und setzte ihren Weg fort, vielleicht ein wenig schneller werdend. Ich zögerte, jemand, ein Fußgänger, prallte mir in den Rücken, durch den Stoß wieder in Bewegung gesetzt, lief ich und holte sie ein; sie reagierte nicht, als ich sie am Ärmel berührte - es war kaum eine Berührung, aber sie mußte mich bemerkt haben -, nun überholte ich sie im Bogen, um nicht zu abrupt vor sie hinzutreten ... und natürlich glaubte ich im selben Moment wieder an eine Verwechslung. Offenbar war sie wirklich eine Studentin, denn sie rauchte während des Gehens mit der linken Hand; sie war dunkel gekleidet, mit knielangem Rock über dunklen Strümpfen, die mit einem Muster durchwebt waren. Oben trug sie eine leichte schwarze Lederjacke, einen dünnen roten Schal unter dem kragenlosen Strickabschluß... an Feuerbach hätte ich eine so dürftige Beschreibung nicht liefern können, ich wäre  seiner giftigsten Blicke sicher gewesen. Ihr Gesicht war weiß, anders war es nicht zu bezeichnen, blütenweiß, und besonders in den sanft nach innen gewölbten Flächen der Schläfen von durchscheinender Blässe, unter der ich das Pulsieren jeder Empfindung hätte sehen können, - jetzt, bei meinem Anblick, erschienen mir diese Schläfen voller Erregung, und die engstehenden Bogenlinien ihrer Augenbrauen zogen sich dichter zusammen, ehe ich noch ein Wort gesagt hatte. - Vielleicht wissen Sie, wann die nächste Lesung stattfindet? sagte ich... ich hatte ein Gefühl, als ob mir die Stimme fremdartig, überlaut aus der Kehle brach; meine harmlose Frage kam mir später wie eine Verhörfrage vor. - Nein, das weiß ich nicht, sagte sie, es klang, als habe sie wirklich keine Ahnung, was ich meinte. - Die Fortsetzung der Lesung vom letzten Monat, in der S. Straße . .. können Sie sich nicht erinnern? - Ich nannte den Namen des Inhabers der Wohnung in der S. Straße, wieder glaubte ich in ein mir völlig fremdes, ausdrucksloses Gesicht zu blicken. Sie schüttelte den Kopf und machte den Versuch, weiterzugehen. - Wir haben uns noch kurz unterhalten, Sie müssen es doch noch wissen, sagte ich. - Nein, ich weiß nicht, sagte sie, ich wüßte nicht, daß wir uns kennen. -Aber von der Lesung wissen Sie doch! Wir haben uns dort gesehen, Sie müssen sich doch erinnern... Sie wollen sich nicht erinnern! - Lassen Sie das! sagte sie, es klang nur zum Schein sanftmütig. Lassen Sie das, dafür müssen Sie sich eine andere aussuchen . ..

Ich konnte sie nicht aufhalten ... Ich heiße Cambert, wissen Sie das nicht mehr! rief ich ihr noch hinterdrein ... jedenfalls hatte ich die dunkle Ahnung, daß ich ihr diesen Namen nachgerufen hatte: und ich wußte nicht mehr, ob ich ihr auf der Lesung im letzten Monat diesen oder einen anderen Namen genannt hatte! - Die Sache mit dem Namen war ein grober Fehler, ich hatte überhaupt alles falsch gemacht .. . ich wollte mich wieder in das Cafe setzen, dann plötzlich entschied ich mich anders. Ich folgte ihr in gebührender Entfernung, doch sie spürte oder ahnte es, sie tauchte in den nächsten U-Bahn-Tunnel ein, in denjenigen, der sie, nur von der anderen Seite her, zum selben Bahnhof wieder zurückführte, von dem sie gekommen war; damit benutzte sie wohl die Bahn der gleichen Linie noch einmal, aus der sie vor einer Viertelstunde gestiegen war. Ich setzte mich ebenfalls in die U-Bahn und fuhr bis zur Endstation durch ... die Studentin hatte ich natürlich verloren.

Obwohl ich mich schon länger in Berlin aufhielt - waren es zwei Jahre ... ich wußte es einfach nicht mehr genau -, waren mir die Wege unter dem Bahnhof Alexanderplatz bei weitem noch nicht überschaubar, immer wieder geleiteten sie mich durch andere Ausgänge ans Tageslicht, immer wieder durch einen, der dem von mir gesuchten gerade entgegengesetzt lag, und oben mußte ich mich stets erst neu orientieren. Dann stieg ich meist wieder hinab, um den richtigen Ausgang zu suchen, was mich regelmäßig noch mehr verwirrte. Geistesabwesend durchstreifte ich die weiträumigen, verzweigten und überlagerten Unterführungen, in denen das Dröhnen der Bahnen, ja, das Dröhnen der gesamten Stadt war ... noch immer ließ mich die Sache mit dem Namen nicht los, noch immer fragte ich mich, ob mir wirklich die Studentin begegnet war.  - (ich)

Studentin (3)  
 

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