tirnauge (japanisches)


 

- Hokusai

Stirnauge (2) Es hat das dritte Auge tatsächlich gegeben, und es gibt es bei manchen Tieren, z. T. in abgewandelter Form, auch heute noch. Nur hatte es zu keiner Zeit irgendeine Beziehung zu irgendwelchen übernatürlichen Mächten. Seine Aufgabe war vielmehr die Herstellung einer urtümlichen Beziehung zur Umwelt.

Die Urtümlichkeit dieser Beziehung ist fraglos der Grund dafür, daß es dieses Organ nur bei den Fischen, Lurchen und Reptilien gegeben hat, und, in manchen Fällen, heute noch gibt. Seit dem Übergang zum Warmblüterprinzip, also bei den Säugetieren und den Vögeln, existiert es bezeichnenderweise nicht mehr. Es ist bei diesen Tierfamilien nun aber nicht einfach verschwunden, sondern in einer sehr interessanten und lehrreichen Weise umkonstruiert und weiterentwickelt worden.

Der bekannte deutsche Zoologe Karl von Frisch machte schon vor mehreren Jahrzehnten auf eigenartige Löcher oder Kanäle aufmerksam, die man im Schädeldach ausgestorbener Reptilien finden könne. Ihre Lage und Form erweckten den Verdacht, daß sie zu Lebzeiten der Tiere ein augenähnliches Organ enthalten haben könnten, das dem Gehirn ziemlich dicht aufsaß und direkt nach oben, also himmelwärts, gerichtet gewesen sein mußte.

Über die möglichen Funktionen eines Auges an dieser Stelle des Schädels ließen sich nur vage Vermutungen anstellen. Nachdem man auf das mögliche Vorhandensein aber erst einmal aufmerksam geworden war und systematisch zu suchen begann, entdeckte man es alsbald auch bei einigen heute noch lebenden Eidechsenarten.

Bei ihnen ist dieses »Scheitelauge« von außen nur bei genauem Hinsehen oder mit einer Lupe als kleines, helles Bläschen oben auf dem Schädeldach zu entdecken. Untersucht man seinen Aufbau aber unter dem Mikroskop, so entpuppt sich das winzige Gebilde als ein, wenn auch noch primitives, Mini-Auge: ein bläschenartiger Hohlraum, dessen obere Wand durchscheinend ist und etwas über die äußere Schädeldecke hervorragt, und dessen Boden aus lichtempfindlichen Zellen besteht, von denen Nervenfasern zum Gehirn ziehen. Klein und in seiner ganzen Anlage noch sehr primitiv, aber unbezweifelbar schon ein Auge.

Was kann man mit einem Auge sehen, das unentwegt starr nach oben blickt? Die Antwort ist einfach: die Sonne. Das Scheitelauge der Reptilien ist immer noch bloß ein weiterentwickelter »Lichtempfänger«. Ein Sehen im eigentlichen Sinne des Wortes ist mit ihm noch nicht möglich und auch gar nicht angestrebt. Sein Bau läßt aber wunderbar erkennen, wie der Weg zum »Sehen« von da aus weiterverlaufen ist.

Das himmelwärts gerichtete Scheitelauge steuert bei den Reptilien wahrscheinlich die im Rhythmus der Folge von Tag und Nacht wechselnde Aktivität. Das heißt also, daß diese wechseiwarmen Tiere es immerhin so weit gebracht haben, daß sie sich von der Umgebungstemperatur nicht mehr bloß aufheizen oder abkühlen lassen. Ihr Stoffwechsel wird — zweifellos eine Verbesserung und Rationalisierung —anscheinend automatisch gedrosselt, sobald der im Schädeldach gelegene Lichtrezeptor einen Sonnenstand signalisiert, der das Heranrücken der Nacht und damit die unvermeidliche Abkühlung ankündigt, die eine weitere Aktivität ohnehin unterbindet.

Vielleicht löst das gleiche Lichtsignal darüber hinaus auch noch so etwas wie einen Heimkehrreflex aus, eine Reaktion, die der Gefahr vorbeugt, daß das Tier von der Kältestarre befallen werden könnte, bevor es die Geborgenheit seines Schlupfwinkels erreicht hat. Außerdem, so vermuten manche Wissenschaftler weiter, löst das Organ das instinktive Aufsuchen einer schattigen Stelle aus, sobald die Gefahr droht, daß eine allzu intensive Sonneneinstrahlung das Tier zu stark aufheizen könnte.

Außerordentlich interessant und eindrucksvoll sind nun die Veränderungen, die dieses Organ im Verlaufe der weiteren Entwicklung erfahren hat, In den letzten 10 Jahren hat man es bei zahlreichen Fischen entdeckt. Hier hat es fast keine Ähnlichkeit mehr mit einem Auge. (Bei dem Vergleich ist zu berücksichtigen, daß ein moderner Knochenfisch im Vergleich zu einer Echse als ein in vieler Hinsicht fortschrittlicherer Orgänismus anzusehen ist, auch wenn seine Art im Wasser geblieben ist.)

Auch bei den Fischen handelt es sich um ein kleines Bläschen. Dessen Wand wird jedoch nicht mehr von Sinneszellen, sondern fast ausschließlich von Drüsenzellen gebildet, zwischen denen nur noch ganz vereinzelt lichtempfindliche Zellen liegen. Bei den Fischen ist der Schädelknochen über dem Organ auch bereits geschlossen. Immerhin ist das hautfärbende Pigment gerade an dieser Stelle der Oberfläche aber zurückgebildet, so daß ein lichtdurchlässiger heller Scheitelfleck entsteht.

Daß auch dieses schon eher drüsenartige Gebilde noch auf Belichtung anspricht, ist inzwischen durch zahlreiche Experimente bewiesen. Bei bestimmten Fischen bewirkt seine Belichtung Farbänderungen der Körperoberfläche, die das Tier dem Aussehen seiner Umgebung anpassen. Daß diese Tarnungsreaktion tatsächlich durch das hier schon fast zur Drüse umgewandelte Scheitelauge ausgelöst wird, beweisen Versuche mit blinden Fischen. Anzunehmen ist ferner, daß auch hier wieder die Aktivität des Tieres durch eine optische Stimulierung der Drüsen in dem kleinen Bläschen den täglichen und jahreszeitlichen Rhythmen unterschiedlicher Helligkeiten und Tagesläufe angepaßt wird.

Aber auch beim Menschen ist dieses Organ nun noch nachweisbar. Nur hat es bei uns mit einem Auge nicht mehr das geringste gemein. Hier ist es endgültig zur Drüse geworden. Anatomische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen lassen keinen Zweifel mehr daran, daß unsere Zirbeldrüse im Laufe der Jahrmillionen aus dem Scheitelauge der Fische und Reptilien hervorgegangen ist. Für diese Verwandtschaft spricht überzeugend auch ein Vergleich der Funktionen.

Zwar ist auch die Funktion der Zirbeldrüse heute in vielen Punkten noch nicht wirklich aufgeklärt. Sicher ist jedoch, daß das Organ auch als Drüse bei uns noch die Aufgabe hat, langfristige zeitliche Rhythmen unseres Organismus zu steuern. Bezeichnenderweise sind das bei uns aber nicht mehr Rhythmen, die durch Veränderungen der Umwelt hervorgerufen werden, an die unser Körper sich anzupassen hätte. Was die Zirbeldrüse zu steuern scheint, sind vielmehr die inneren Rhythmen von Wachsen, Reifen und Altern. Entzündungen und Tumore dieser Drüse können zum Beispiel einen vorzeitigen Eintritt der Pubertät auslösen. Geblieben ist dem Organ also auch in seiner bei uns vorliegenden Gestalt die Aufgabe, bestimmte körperliche Prozesse zeitlich zu ordnen. Hier kommen die steuernden Signale aber nicht mehr aus der Außenwelt, sondern aus dem eigenen Organismus.

Zirbeldrüse

Der Pfeil markiert die Lage der Zirbeldrüse (schwarz) im menschlichen Gehirn

 

Wenn man das reptilische Scheitelauge und die menschliche Zirbeldrüse miteinander vergleicht, und wenn man sich angesichts der Übergangsstellung, die das gleiche Organ bei den fortschrittlichen Fischen einnimmt, den Entwicklungsgang veranschaulicht, der beide historisch miteinander verbindet, dann hat man folglich die Tendenz zur Abschließung von der Umwelt an einem konkreten Beispiel vor sich:

Das Reptil ist mit seinem Scheitelauge noch an die in seiner Umwelt periodisch auftretenden Veränderungen wie im Schlepptau passiv »angehängt«. Es übernimmt seine innere zeitliche Ordnung einfach aus der Umwelt. Auf dem Wege zum Menschen schließt sich dieses Fenster zur Außenwelt. Das Schlepptau wird gekappt. Die Funktion einer zeitlichen Koordinierung körperlicher Abläufe bleibt dem Organ zwar erhalten. Die Quelle der steuernden Impulse liegt jetzt aber im Individuum selbst.

Vielleicht sind die Öffnungen zwischen den Schädelnähten des Säuglings, die »Fontanellen«, ebenfalls noch eine Erinnerung unserer Gene an jene weit zurückliegende Zeit, in der die Zirbeldrüse auch bei unseren Urahnen noch ein Lichtrezeptor war, ein Organ also, das für das Licht erreichbar sein mußte.

Heute aber wird es mit Recht als ein Zeichen der Reifung angesehen, wenn diese Fenster im Schädel des jungen Menschen sich frühzeitig und endgültig schließen. - Hoimar v. Ditfurth, Im Anfang war der Wasserstoff. Hamburg 1972

Stirnauge (3) Das Volk der Zyklopen war nicht das einzige, dessen Angehörige nur ein Auge hatten; Plinius (VII, 9 f.) erwähnt auch die Arimaspen. »Männer, die sich dadurch auszeichnen, daß sie nur ein Auge haben, und dieses mitten auf der Stirn. Sie leben in ewigem Krieg mit den Greifen, einer Art geflügelter Ungeheuer, denen sie das Gold entreißen wollen, das diese aus dem Inneren der Erde holen, und das sie mit der gleichen Habgier verteidigen, welche die Arimaspen in ihrem Bemühen, es ihnen zu rauben, an den Tag legen.«

Fünfhundert Jahre früher hatte der erste Enzyklopädist, Herodot von Halikarnassos (III, 1 16), geschrieben: »Im Norden von Europa scheint es eine beträchtliche Fülle von Gold zu geben, aber ich wüßte nicht zu sagen, wo es sich befinden mag, noch woraus es entnommen wird. Man berichtet, daß die einäugigen Arimaspen es den Greifen rauben; aber die Fabel ist allzu kunstlos, um einen glauben zu machen, daß es auf der Welt Menschen gäbe, die nur ein Auge im Gesicht haben, im übrigen aber wie die anderen seien.« - (bo)

Stirnauge (4)

- (boc)

 Stirnauge (5)  Ich bemerkte, daß ich nur ein Auge mitten auf der Stirn hatte! O Silberspiegel, in die Fassungen der Vestibüle eingelegt, wie viele Dienste habt ihr mir nicht schon durch eure reflektierende Macht erwiesen! Seit dem Tage, da eine Angorakatze mir eine Stunde lang das Scheitelbein zernagte, wie eine Bohrmaschine, die den Schädel aulbohrt, indem sie mir plötzlich auf den Rücken sprang, weil ich ihre Jungen in einer mit Alkohol gefüllten Wanne gekocht hatte, hörte ich nicht mehr auf, gegen mich selbst den Marterpfeil zu schleudern. Heute, unter dem Eindruck der Wunden, die mein Körper bei verschiedenen Gelegenheiten empfangen hat, sei es durch das Verhängnis meiner Geburt, sei es durch eigenes Verschulden; überwältigt von den Folgen meines moralischen Sturzes (einige sind vollzogen; wer kann die anderen voraussehen?); empfindungsloser Zuschauer der erworbenen oder natürlichen Scheußlichkeiten, welche die Sehnenhaut und den Geist dessen zieren, der spricht, werfe ich einen langen, befriedigten Blick auf die Dualität, aus der ich zusammengesetzt bin... und ich finde mich schön! Schön wie der angeborene organische Fehler der Geschlechtsteile des Mannes, der in der relativen Kürze der Harnröhre und der Teilung oder des Fehlens ihrer Innenwand besteht, so daß dieser Kanal sich in variabler Entfernung von der Eichel und unter dem Penis öffnet; oder auch wie die fleischige, kegelförmige Karbunkel, von ziemlich tiefen, querverlaufenden Runzeln durchfurcht, die sich auf dem Ansatz des oberen Schnabels des Truthahns erhebt. - (mal)

Stirnauge (6)  Ich drückte die Tür zu Appartment 2 E auf. Um einen Tisch mit einem grell rot und weiß karierten Tuch waren mehrere Stühle gruppiert. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Bananenbrot und ein zweiter mit Brie. Daneben ein Krug mit Bloody Mary, in dem das Eis gerade zu schmelzen begann, sowie mehrere dekorative Kristallgläser.

Eines der Gläser war deutlich mit einem hellrosa Lippenstift beschmiert, soweit so eine Schmiere deutlich sein kann. Sie paßte zur Inneneinrichtung, denn der Mann hielt einen Strauß langstieliger rosa Rosen. Er lag auf dem Boden und hatte dort, wo man sein drittes Auge vermuten würde, ein niedliches kleines Loch. Die Blumen, die er hielt, waren sehr schmuck, doch das kümmerte ihn recht wenig. Auf dem Boden neben der Leiche lag eine kleine weiße Karte mit der getippten Nachricht: »ich schick dir elf rosen . . . die zwölfte rose bist du.«   - Kinky Friedman, Greenwich Killing Time. Zürich 1992 (zuerst 1986)

Stirnauge (7)  

- Odilon Redon

Stirnauge (8) Irnmer stärker begann ihn der Alltag, der unausweichliche Alltag mit seinen Anforderungen, in Beschlag zu nehmen, bis nur noch ein kleines, bitteres Vergnügen übrigblieb, von dem er sich nicht trennen mochte. Hin und wieder, wenn der Mond, die Gezeiten und die Anziehungskräfte der Planeten zusammenwirkten, trat er durch das dritte Auge auf seiner Stirn hinaus und vertraute sich einem bemerkenswerten Transportsystem an, mit dessen Hilfe er auf dem kürzesten Weg dorthin zu fliegen vermochte, wo sie sich gerade befand, und dann suchte er sie heim, fast unbemerkt, gerade spürbar genug, um sie zu beunruhigen, und genoß, so lange er konnte, jede einzelne dieser kostbaren Minuten, Eine schlechte Angewohnheit, das war mal sicher, und er hatte auch nur einer Handvoll Menschen davon erzählt, zu denen, was sich als unklug erweisen mochte, auch seine Tochter Prairie gehörte, die er eben erst an diesem Morgen eingeweiht hatte.

«Oh!» während sie bei einem Frühstück saßen, das aus Cap'n Crunch-Frühstücksflocken und einer Diät-Pepsi bestand.

«Du meinst, du hast geträumt...»

Zoyd schüttelte den Kopf. «Ich war wach. Aber außerhalb meines Körpers.»

Sie quittierte das mit einem Blick, dessen volles Risiko - nämlich ihr Vertrauen, daß er sie nicht grausam verladen würde - er so früh am Morgen noch nicht wirklich einzuschätzen wußte. Es war bekannt, daß sie in vielen Dingen und besonders, was Prairies Mutter betraf, sehr verschiedene Vorstellungen von Humor hatten. «Du fliegst hin, und was dann? Hockst du dich auf irgendeinen Ast und kuckst, oder flatterst du herum, oder was?»

«Es ist, wie wenn Mr. Sulu seine Koordinaten eintippt, nur ganz anders», erläuterte Zoyd.

«Du weißt also genau, wo du hin willst.» Er nickte, und sie fühlte ein ungewohntes Aufwallen von Zärtlichkeit für dieses schnorrende und meist nicht sonderlich helle Randgruppenmitglied, das ihr auf diesem Planeten als Vater zugeteilt worden war.  - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

Stirnauge (9)

Stirnauge (10)  Man versteht mich nicht. Nein, man versteht nicht, daß ein Filmer, ein Komiker . . . nach Erscheinung sucht, Erscheinung!, statt nach Gags. Daß er endlich mit dem Scheitelauge zu sehen wünscht, mit der Licht-Zelle, dem Krötenstein, dem Schiwa-Organ. (Nach älterer Auffassung ein im Verlauf der Evolution verlorengegangener Ursinn. Bei frühen Reptilien ein äußeres Organ, das mit der Großhirnentwicklung nach innen verlagert und unterdrückt wurde, als Zirbeldrüse überlebte. Sehr interessant. Das Stirn-, das geistige Auge hatte sich also in ein die Geschlechtsreife regulierendes Hormon gewandelt. Ein Zellgewebe, das Licht und Sexus miteinander verbindet. Des Erdenwums >Blick nach oben< ist sein Zeugen . . .)

Warum sollte er nicht über die Gesellschaftswiese wandeln und mit dem dritten Auge sehen? Mit diesem schaut er ins Gesicht eines Mit-Bürgers, und er wird darin den Stand des Gemeinsamen, wohin man ganz allgemein gekommen ist, wahrnehmen, er wird ihn erkennen in der Erscheinung (im physischen Nu) eines Zeit-Genossen.  - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984

Auge Auge
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