Stimmengeographie   Nehmen wir nun an, daß du - seit jeher und aller Wahrscheinlichkeit nach in deinen Winkel des nächtlichen Dorfs gekauert - nehmen wir an, sage ich, daß du - einem Forschungsdrang folgend -dich bemühst, eine Karte zu zeichnen, eine Geometrie der Stimmen. Könntest du dann nicht einen geistigen Raum entwerfen, eine Seelengeometrie, auf der die Orte jener Stimmen einzuzeichnen wären, die du als zornig beurteilst - das Stöhnen und Röcheln, die stimmlichen Inquisitionen, die skandierten Erwiederungen, die grollenden Glockenschläge, die feindseligen Metal-lophonien  und  die  rechthaberisch  einschüchternden Reden. Also: das, was da tönt, ist ein Raum, der eine Menge Münder, Löcher, Kehlen, Zungen, Schnäbel, Zähne und Zäpfchen voraussetzt; dabei sei klar, daß das mit der geographischen Stimmenkarte nichts weiter ist als eine Phantasie, die vorgibt, über jenes Getöse, das wir als wahnsinnig beschrieben haben, Auskunft zu geben. Wenn nun die ins Klangliche übertragene Geographie solchermaßen zerlegt wird, dann haben wir nicht mehr einen einzelnen polyphonen Wahnsinn, ja vielleicht überhaupt keinen Wahnsinn mehr, oder viele parallele Wahnsinne, oder viele Sinne, so zusammengestellt, daß sie unweigerlich irgendeine Form von Wahnsinn ergeben. Aber wenn wir die fertiggestellte Karte der Schreie geistig überfliegen, ebenso wie wir sie geistig gezeichnet haben, dann werden wir bemerken, daß einige dieser gellenden Örtlichkeiten andere Stimmen, andere Rhythmen und wie ich glaube, oder wie du glaubst, auch andere Absichten haben. Und da fordere ich dich nun auf, mit scharfer Brutalität gegen diese Stimmenkarte vorzugehen und alle Stimmen zum Schweigen zu bringen, die du zum Schweigen bringen kannst; und da wirst du bemerken, daß es Stimmen gibt, die du nicht zum Schweigen bringen kannst, jetzt nicht und nie. Sind das vielleicht deine Stimmen?   - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989

Stimme Geographie

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