terbezimmer
Ich sah, wie viele der armen Burschen in das »Sterbezimmer« getragen wurden
und sah keinen von ihnen wieder herauskommen. Nur unser erster Steuermann wurde
mehrmals dorthin getragen. Seine Verletzungen waren fürchterlich, besonders
die Verbrühungen. Bis zur Taille war er in Leinsamenöl und Watte gewickelt,
keinem Lebewesen mehr gleich. Er phantasierte oft und tobte und schrie, ja brüllte
oft vor Schmerzen. In einer kurzen Erschöpfungspause ließ ihn dann sein verwirrter
Geist die große Halle als Vorderschiff und den Pflegerinnenstab als Mannschaft
verwandelt sehen. Er richtete sich auf und schrie: »Tummelt euch, tummelt euch!
Ihr Steinfiguren, ihr Schnecken, ihr Leichenträger! Wollt ihr den ganzen Tag
an der Handvoll Fracht arbeiten?« und ergänzte diese Explosion mit einem zum
Himmel schreienden Ausbruch von Flüchen, den nichts anhalten oder zum Stillstand
bringen konnte, bis der Krater leer gebrannt war. Manchmal, wenn ihn diese Raserei
befiel, riß er sich dann händevoll Watte herunter und ließ sein rohes Fleisch
sehen. Das war furchtbar. Natürlich waren dieser Lärm und dieser Anblick für
die Übrigen nicht gut. Die Ärzte versuchten deshalb, ihm Morphium zu geben,
um ihn zu beruhigen. Aber, ob bei oder ohne Bewußtsein, er nahm es nicht. Er
sagte, seine Frau sei an diesem verräterischen Gift gestorben, und er würde
eher sterben, als es einnehmen. Er mißtraute den Ärzten und glaubte, daß sie
es in seine Medizin oder das Trinkwasser schütten würden - daher rührte er beides
nicht mehr an. Als er einmal zwei glühend heiße Tage ohne Wasser gewesen war,
griff er zum Trinkbecher, und der Anblick der klaren Flüssigkeit und sein quälender
Durst ließen ihn fast der Versuchung nicht mehr widerstehen. Aber er beherrschte
sich und goß das Wasser aus, ließ aber von da an nicht mehr zu, daß es in seine
Nähe gestellt wurde. Ich sah dreimal, wie er in das Sterbezimmer getragen wurde,
ohne Bewußtsein und angeblich im Sterben. Jedesmal jedoch kehrte er wieder ins
Leben zurück, fluchte auf seine Wärter und befahl, daß man ihn wieder zurücktrage.
Er wollte leben, um wieder als Steuermann auf einem Schiff zu fahren.
-
Mark Twain, Leben auf dem Mississippi. Frankfurt am Main 1985 (it 836, zuerst
1883)
Sterbezimmer (2)
Als sein Ende absehbar war, wich die papessa kaum mehr von
seiner Seite, aus Angst, ein anderer könnte auf ihn Einfluß gewinnen. Während
er zusehends verfiel, entfernte sie aus dem Vatikan alles, was nicht niet- und
nagelfest war. Es verschwanden Geschirr, Schränke, Stühle, selbst die Wäsche.
Abends verschloß sie das Zimmer des Todkranken, damit niemand die Kasse unter
seinem Bett raubte, und ließ sich in ihrer Sänfte nach Hause tragen. Die Diener
erzählten, die Fürstin werde von Tag zu Tag schwerer, weil sie sich mit Gold
und Kostbarkeiten belud. - Albert Christian Sellner,
Immerwährender Päpstekalender. Frankfurt am Main 2006 (Die Andere Bibliothek
260)
Sterbezimmer (3) »Die Äbtissin lag im Todeskampf, es war Mitternacht. Noch heute überfällt mich ein Schüttelfrost, wenn der schreckliche Anblick wieder vor mein geistiges Auge tritt. Denn Doña Rosalinda, stets eine schlanke Frau, war zu einer so monströsen Gestalt angeschwollen, daß sie einem kleinen Walfisch glich, und sie war überdies kohlschwarz geworden. Die Schwellung hatte ihr äußerstes Ausmaß erreicht, und Doña Rosalinda schwebte langsam in die Höhe, wo sie einen Augenblick verharrte. Dann überkam den Körper ein plötzliches Zittern, gefolgt von einem Knall, lauter als jede bekannte Kanone, und einer Explosion von solcher Wucht, daß ich gegen die Wand geschleudert wurde. Alles, was von der Äbtissin von Santa Barbara von Tartarus auf dem Bett übrigblieb, war ein kleiner Fetzen feuchter schwarzer Haut, nicht größer als ein Taschentuch.
»Dichte Schwaden, schwer wie eine Gewitterwolke, erfüllten das Sterbezimmer
mit schrecklichem Gestank. Noch völlig erschüttert von diesem furchtbaren Schauspiel
wurde ich nicht sogleich eines kleinen Gegenstandes beziehungsweise leuchtenden
Körpers gewahr, der in den Nebelschwaden hin- und herflatterte': Es verging
einige Zeit, bis ich einen Knaben erblickte, nicht größer
als eine Schleiereule, leuchtend weiß und geflügelt, der in der Nähe der Decke
herumflatterte. Er trug einen Bogen und Pfeile, aber das glänzende Licht, das
von seinem Körper ausging, machte mir eine eingehendere Untersuchung unmöglich.
Der Gestank der Gase, die von der toten Äbtissin ausgingen,
hatte sich in ein schweres, höchst exquisites Parfüm
verwandelt, wie Moschus und Jasmin. - (
hoer
)
Sterbezimmer (4)
Ingravallo trat ein, in ein großes Zimmer. Darin ein Gestank von schmutziger
Wäsche oder von ungewaschenen oder im Elend schwer zu waschenden Menschen, oder
vom ewigen Schweiß unermüdlicher Feldarbeit: oder vielmehr, schlimmer noch,
von schlecht verräumten Fäkalien nahe dem Bettlägrigen, der so schonungsbedürftig.
Zwei lange Wachslichter, in lebhaften Farben bemalt, blau-rot-gold, in einer
von der Zeit nicht abgelegten koloristischen Tradition, hingen von der Wand,
an zwei Nägeln, links und rechts des Bettes: der trockne Ölzweig: ein Buntdruck,
die blaue Madonna mit der Goldkrone im schwarzen hölzernen Rahmen. Zwei Strohsessel.
Eine Gipskatze, mit einem Bändchen um den Hals, scharlachrot, auf der Kommode,
zwischen Flaschen, Pfannen. Neben dem Siechen hockte eine Alte, den gestreiften
Rock bis zur halben "Wade, mit zwei Stoffschuhen ohne Senkel (und drin,
die Füße), die sie auf die Querleiste des Stuhls stützte. Im breiten Bett unter
abgenützten und grünlichen Decken, zum Teil überspreitet von einer guten (warmen
und hellen, Geschenk der Liliana, überlegte Ingravallo) - ein hingestreckter,
dürrer Körper, wie eine magere Katze in einem Sack, den man auf der Erde abgestellt:
ein knochiges und kachektisches Gesicht ruhte im Kissen, bewegungslos, gelbbraun,
wie aus einem ägyptischen Museum: wäre nicht das gläserne Weiß des Bartflaums
gewesen, der die Nichtzugehörigkeit zum ägyptischen Katalog anzeigte, sondern
zu einer leider viel näherenÄra der Menschheitsgeschichte, einer für Ingravallo
in diesen Tagen geradezu aktuellen. Alles schwieg. Es war nicht auszumachen,
ob es sich um einen Lebenden oder einen Toten handelte: ob es Mann sei oder
Frau, der im Ablauf des Lebens, zwischen den Tröstungen der Nachkommenschaft
und der Erdhacke, in einem Wirbel von Mücken, auf die Goldne Hochzeit zu, dieser
Bart gesproßt war. Die beiden Wachslichter links und rechts schienen darauf
zu warten, daß man sie in die entsprechenden Leuchter stecke, auf daß eine barmherzige
Hand sie mit einem Streichholz entzünde. - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung
in der Via Merulana. München 1988
Sterbezimmer (4)
Ich weiss nicht, ist das eine besondere Eigenheit von mir: ich fühle mich
in den meisten Fällen fast glücklich, wenn ich in einem Sterbezimmer
wache, wenn nicht etwa eine klagende und verzweifelte Person diese Pflicht mit
mir teilt. Ich weiss mich im Angesicht einer Ruhe, die weder Erde noch Hölle
zu stören vermögen; ich finde darin die Zusicherung eines grenzen-
und schattenlosen Jenseits - der endlich erlangten Ewigkeit -, wo das Leben
in seiner Dauer nicht mehr beschränkt wird, noch die Liebe in ihrer Neigung,
noch die Freude in ihrer Fülle. Ich gewahrte bei dieser Gelegenheit, wieviel
Egoismus selbst in einer Liebe wie der Mr. Lintons enthalten ist, der sich so
heftig grämte über Catherines glückliche Befreiung. Zweifelsohne
könnte man sich, nach dem Leben voller Ungeduld und Launen, das sie geführt
hatte, fragen, ob sie verdient habe, schliesslich den Port des Friedens zu erreichen.
In Augenblicken kalter Überlegung mochte man daran zweifeln, aber nicht
dort, in Gegenwart ihres Leichnams. Er bürgte für seine eigene Ruhe,
die wiederum eine Bürgschaft schien für die Ruhe der Seele, der er
Wohnung gewesen. - Emily Brontë, Sturmhöhe. Zürich
1973 (zuerst 1847)
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