Sprecher   Ich habe dich auf die implizite unmögliche Begrifflichkeit der wahnsinnigen Rede hingewiesen, aber nun sollte dir auch nicht entgehen, daß diese Begrifflichkeit nicht eigentlich beabsichtigt ist, sondern vielmehr geargwöhnt - ich glaube, das ist das passende Wort - im Inneren der Klänge, der Stillen und der Interjektionen; dasjenige, was wahnsinnig ist und wovon ich dir jetzt sprechen möchte, ist wahnsinnig, weil es in den Klängen bedeutungsvolle Absichten rindet, die ihm unerträglich sind. Doch das ist noch nicht alles: die Frage »Wer ist was«, die sich immer stellt, erscheint jetzt ganz besonders alarmierend. Jetzt verschwindet nämlich die Fiktion von der Einzigkeit des Sprechers; im Grunde hatte es sich immer nur um eine Fiktion gehandelt, oder genauer gesagt: es hatte geheißen, die Aussagen wären so geartet, daß sie auf die Hypothese eines einzigen wie sehr auch immer über sich selbst verblüfften und verwirrten Sprechers verwiesen - vielleicht eines schattenhaft verlängerten Sprechers, Echos seiner selbst, Erinnerung und Projekt, beide fähig zu doppelter Fluktuation. Aber jetzt besteht kein Zweifel mehr: die Rede des Wahnsinns setzt eine Menge von Stimmen voraus, was nicht heißen muß eine Menge von Sprechern, sondern eher ein gleichzeitiges Sprechen aus vielen Mündern, wenn wir metaphorisch glauben wollen, es gäbe einen Mund, eine Menge Zungen, eine Menge Atemstöße, eine Menge Stimmöffnungen und vielleicht auch eine Verzweigung von Grotten, aus denen Stimmen dringen. Ja, diese letzte Definition erscheint mir seltsam und nicht sinnlos, denn sie schlägt eine Vorstellung des Sprechers vor, die man bisher vernachlässigt hatte: nämlich daß es sich nicht um ein dir ähnliches Wesen handelt, das in der Nacht des Dorfes wohnt, sondern vielmehr um eine Landschaft, die geeignet ist, Stimmen zu äußern, sei es durch Löcher in zerklüfteten Felsen, durch Ritzen in dürren Bäumen, erschauernde Brunnenschächte, erdige Gänge, sei es durch flötenförtnig zugeschnitztes Gebein, dem der Wind sich zuspielt, oder durch eben diesen Wind, der überall abprallt und den rauhen, herben, gläsernen und flüssigen Oberflächen weiche Vokale oder stotternde Konsonantenverzweiflungen entlockt.  - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989

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