piegel,
andalusischer
Ein Spiegel reflektiert noch etwas mehr als nur die Oberfläche
eines Gesichts, er reflektiert auch die geheimen Gefühle, die Gemütsbewegungen,
die man verhehlen möchte. Kurz gesagt, der Spiegel reflektiert die Seele eines
Menschen - bei diesem Gedanken ertappte sich der Kardinal -, sofern dieser Mensch
eine Seele besitzt. Er näherte sich dem Spiegel, den
er wenige Tage zuvor bei einem andalu-sischen Händler erworben hatte, einem
runden Spiegel, nicht viel größer als ein Kardinalshut, mit einer konvexen Oberfläche
und einem schönen vergoldeten Rahmen, der mit kleinen mit Dukatengold überzogenen
Bällchen verziert war. Er hatte ihn »Spiegel der vielfachen Figuren« getauft,
weil er den Raum ringsum vergrößerte und Bilder mit einem so weiten Blickfeld
reflektierte, daß er alle im Raum befindlichen Personen und Dinge faßte. Der
Kardinal schaute sein eigenes, von dem konvexen
Kristall reflektiertes Gesicht aus der Nähe an, und es flößte ihm Grauen ein.
Diese aufgeworfenen Lippen, diese hervorquellenden Froschaugen, diese geschwollene
und krumme Nase. Er zwang sich zu lächeln und betrachtete eine Weile seine großen
und langen Pferdezähne. Einen Moment lang hatte er Angst, sie könnten ihn beißen.
Es kommt kaum vor, daß Pferde Menschen beißen, aber die Drachen? Dies waren
keine Pferdezähne, sondern die Zähne eines furchtbaren Drachens, eine Bedrohung
und eine Gefahr. Von einem zispadanischen Schriftsteller hatte er die groteske
Behauptung gehört, die Zähne seien ein Spiegel der
Seele. Diese gräßliche Fratze in dem andalusisehen Spiegel wäre also sein
wahres Bild? Oder reflektiert dieser Spiegel nur seine schlechtere Hälfte? Oder
zeigte er einfach nur eine Maske, genauso verlogen
wie alle Masken? Er dachte daran, ihn »Spiegel der minderen Art« zu nennen,
wie man die Prostituierten der niedersten Sorte nannte. Oder »Spiegel der Masken«,
weil er in jedem Fall und von jedem Gesicht ein Karnevalsbild reflektierte -
und wäre es das des Papstes. - Luigi Malerba, Die nackten Masken. Berlin 1995
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