ommerabend
Am Abend des 5. Juni 1455 sitzen auf der Steinbank vor dem
Stift St. Benoît der junge Priester Gilles,
François Villon und das reizende Mädchen Yssabeau.
Es ist ein lauer Sommerabend. Paris hat das Fronleichnamsfest prunkvoll
begangen. In den Tavernen ist Hochbetrieb, aber hier im Schatten der gorischen
Gemäuer herrscht riefe Stille. Villon grübelt, wie er den jungen Priester
abschütteln könnte, um mit seiner Schönen allein zu sein. Da werden die
drei auf der Bank unsanft erschreckt. Zwei vermummte Gestalten durchbrechen
die Ruhe des Abends. Einer steuert auf Villon zu und ruft: »So, jetzt habe
ich dich mal erwischt, du Heuchler.« Villon beachtet ihn nicht. Aber der
aufdringliche Störer wird aggressiv, zieht seinen Dolch und spaltet Villon
die Oberlippe. Dessen Geduld ist nun zu Ende, gereizt, zieht auch er jetzt
seinen Dolch und sticht auf seinen Gegner ein; er will es aber nicht zum
Äußersten kommen lassen und läuft weg. Der Vermummte hinterher. Villon
erreicht eine Barbierstube und läßt seine stark blutende Lippe verbinden.
Inzwischen ist sein Verfolger zusammengebrochen, der Dolchstich von Villons
Hand war tödlich.
Der Sterbende wird in das Stift St. Benoît-le-Retourné getragen, man
stellt fest, daß es sich um den Priester Sermoise handelt. Das Châtelet
(die Pariser Polizei) nimmt ein Protokoll auf. Der sterbende Priester vergibt
seinem Mörder. Der Name Villons wird nicht erwähnt. Aber der Barbier,
der seine Lippe verbunden hatte, meldet den Vorfall. Auch hiervon wird
kein Aufhebens gemacht, der Getötete hat seinem Mörder vergeben, warum
soll da das Gericht noch richten. - Paul
Zech in: Die lasterhaften Balladen des François Villon. Nachdichtung
von Paul Zech. München 1962 (dtv 43, zuerst ca. 1460)
Sommerabend (2) Ein Sommerabend. Fred, Henry
und ich, wir essen in einem kleinen offenen Restaurant neben der Straße. Wir
sind ein Teil der Straße. Wir sind nicht Henry, Fred und ich, die essen, wir
sind eine Straße voller Menschen, die essen, plaudern, trinken. Wir essen die
Geräusche der Straße mit: die Stimmen, die Autos, die Rufe der Verkäufer, die
Schreie der Kinder, das Gurren der Tauben, das Flattern der Täuberiche, Hundegebell.
Wir sind alle eines. Der Wein, den ich trinke, rinnt auch durch alle anderen
Kehlen. Die Wärme des Tages ist wie die Hand eines Mannes auf meiner Brust;
Tageswärme und Straßengerüche streichen über alle hinweg. Das Restaurant ist
weit offen, und die Straße dringt herein. Der Wein badet alle in einem aphrodisischen
Ozean: Henry, Fred, die Straße, die Welt...- Anais Nin, Tagebuch nach
(
enc
)
Sommerabend (3) Es war einer jener Sommerabende,
an denen in Paris die Luft nicht ausreicht. Die Stadt, heiß wie ein Dampfbad,
schien zu schwitzen in dieser schwülen Nacht. Die Abflußkanäle hauchten ihren
verpesteten Atem aus den granitgefaßten Mündern, und die im Kellergeschoß gelegenen
Küchen stießen die widerlichen Ausdünstungen von Abwaschwasser
und alten Soßen durch ihre niedrigen Fenster auf die Straße. Die Concierges
saßen in Hemdsärmeln rittlings auf strohgeflochtenen Stühlen in den Einfahrtstoren
und rauchten Pfeife, und die Leute gingen schleppenden Schrittes vorüber, barhäuptig,
den Hut in der Hand. - Maupassant, Bel-ami. Hattingen
1961 (zuerst 1885)