Sommer 1974

 Bruchstück Nr. 1

Sommer 1974, wechselnde unbeständige
                 Temperaturen, alles eher kühl, sumpfig,

zerlaufene Formen, manchmal etwas Sonne, spät
dazwischen Unwetternachrichten, mit Zeitungsfotos, die
Katastrophen lokale Gespräche für einige Tage, dann

vergessen: Gewitter auf Eternitdächern von Hühnerställen,
zehn Zentimeter große Hagelklumpen, die auf dem Felde
Hasen, Rehkitz, Fasanen und Tauben

erschlugen, zerfetzte Äcker, Mais, verwüstete
Rüben, zertrümmerte Gewächsanlagen, umgekippte Bäume,
erstarrte Baumwurzeln, wüste Lichtungen,

„der Hagel hat die Tiere blutig geschlagen," ein
Zitat zur Unterhaltung wie die Televisionsberichte
von den Kämpfen im Süden und der Satz eines

Kommentators: „Die Insel der Aphrodite ist im Eimer."
Dunst über dem Times Square: „The Frontpage is hilarious."
Aus einem Bühnenstück: „Die Erde ist voller Glanz unter
dem Ruß." Geld wird in den Süden ab

geschoben, mehrere Milliarden, Verpflichtungen
wegen der Gesamteuropäischen Idee, zerfallene Museen,
Postsäcke schwimmen im Tiber, die Villen bleiben
unangetastet, Romy Schneider bläst

in ihrem neuen Film einem Filmkomparsen auf franzosisch
die Liebe, er steht vor ihr, sie kniet, aufgetakelt, davor.
Die Songs müssen importiert werden. Eiswürfel in

einem Glas ergeben einen guten Klang, die Aesthetik
der teuren Vororte, Boutiquenzauber, der alle halbe
Jahre wechselt, Aufgüsse eines Geschmacks von

gestern, Blümchenstoffe, gefärbte Haare,
eine Abschlußarbeit in Pädagogik über Haschisch acht Wochen
lang, nach der Entleerung aller Inhalte im vergangenen
Jahrhundert jetzt die Entleerung aller Formen,

zu bedauern ist das nicht. Die Innenstädte ohne Jahreszeiten,
gleichbleibend farblos, die Gesichter ausdruckslos, flach,
fast unkenntlich, in Massen, erhöhte Wohngebühren,

kalte Heizkörper. Die Zahl der Fehlgeburten,
Frühgeburten, Nabelschnur um den Hals gewickelt, ge-
rissene Fruchtblasen, Brutkästen, Hirnschäden hat sich
erhöht, die Meinungsforschungsinstitute machen

Umfragen: „Welche Bedeutung geben Sie einer Abfalltüte?"
Sie suchen nach neuen Sprachen, im Dunkeln der Körper,

in der Landschaft unausgeführte Betonmonstren, die
Pläne verschollen, unverständlich geworden, im Freien,
Stammeln, sobald man das eigene Körpergefühl bei deren
Anblick in ganze Sätze zu fassen versucht.

Eine erstarrte Zukunft: Herzattacken, der oberste Hemd
Knopf geöffnet, „Freizeithemden," das Verlangen nach
Halluzinationen, die Sehnsucht nach wortloseren
Zuständen, eine weiße leuchtende Wand

zur Mittagszeit, auf die man starren kann, gedankenlos,
wortlos, jeder Begriff von Welt ausgelöscht, dann von neuem
zu den lautlosen Maschinen,

„bringst du das?" eine umgangssprachliche Wendung.
Erloschener Piccadilly Platz, Paris ein trübes Glitzern
in der Erinnerung, wertloses Rom, neben dem Goethe Institut
ein Händler in einer düsteren Toreinfahrt, auf der

Pappschachtel ausgestellt Rasierseife, Rasierpinsel,
Rasierklingen, weder Bettler noch sonstwas, nicht einmal
etwas Unverständliches, kein Geheimnis. Auf diese Art
werden Erinnerungen ausgetauscht, die keine

sind, Schweißausbrüche in einem öffentlichen Park, Reisen,
das fremde Einanderanstarren nach einigen Jahren, trifft man
einen Bekannten wieder. Jetzt wieder

die Aufwertungen der Frau allgemein, die Propagierung
lesbischer Zärtlichkeit in einer großen deutschen Wochen
Schrift, eingefrorene Gesten, Researcharbeit, Wörter und
Bilder zusammengestellt zu einem

gemachten Rausch, „mein persönliches Verhältnis,"
das ist eine Aussage, Silberpapierblumen, Astern in
einem ausgespülten Gurkenglas, so fehl am Platz

    bist du, so fehl am Platz, Abends, an einem Tümpel,
die Widerspiegelung farbiger Lufträume, ausschweifendes
gelbes Licht, ein verdämmernder Tagtraum. Also

dieser Sommer, voller Zusammenbrüche, Vergessen, Abwesenheiten,
Fotografien, deren Inhalt nicht mehr zu erklären ist, Ab
Tritte und Auftritte von Politikern, Lichtspiele,

    Wetterberichte, die Biologie des Ausdrucks, nach
    errechneten Methoden, tote Tiere auf den Feldern, ver
billigtes Schweinefleisch auf den Märkten, und eine

      Unterhaltung an einem Fluß, wo die Kohlenschlepper
   langsam vorüber gleite n, über dem Stahlgerüst der
Brücke, Güterzüge, in der Ferne eine monotone Stadt,

- (westw)

 

Sommer

 

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