Sittenbild  »Sie geben mir da ein ganz neues Sittenbild der Geistlichkeit.«

»Ich kann Ihnen noch ganz andere Dinge erzählen! ... Niemand hat soviel Phantasie, sich was Seichteres, Sumpfigeres als diese schwarzen Vögel vorzustellen. Da sind die Hirten ihren Schafen ebenbürtig. Sitten! Wie sollen sie's zu Sitten bringen? Die versteinerte Moral, deren Hüter und Ärzte sie sind, kann aus ihnen nur Heilige oder Spitzbuben machen. Ohne Freiheit gibt es keine Moral. Moral muß aus Freiheit hervorgehen; sie kann nur auf Freiheit gepfropft werden, nicht starr, sondern beweglich, im Einklang mit dem allgemeinen Stand der menschlichen Kultur. Es gibt Heilige unter den Geistlichen, wenige, aber es gibt sie. Für mich sind das Monstren. Der Rest ...«

»Ich wüßte gern, was für Gefühle Ihre Brüder in Christo für Sie hegen?«

»Sie hassen mich. Keiner von ihnen kennt mich zwar, aber es schwant ihnen etwas, sie wittern etwas. Keiner von denen, die ich in den letzten Tagen erleichterte, hat nicht von finsterer Rache geträumt. Doch etwas zu unternehmen, wagen sie nicht. Sie schlucken Neid und Wut hinunter. Sich beklagen? Bei wem? Beim Erzbischof? Der verdankt mir seinen Thron. Ich war es, der ihm vor einem Vierteljahr den berühmten Hirtenbrief aufsetzte, der ihm noch den Kardinalshut einbringt. Oh, sie wissen, daß ich Monseigneurs Ohr besitze. Sie können ja nach Rom gehen, wenn ihr Herz danach verlangt.«

»Sie sind mir ein Rätsel, Abbé

»Ich war's weniger, wenn meine Enthüllungen Ihnen nützen könnten, aber was wollen Sie damit anfangen? Immerhin, wenn es Sie nach biographischen Details verlangt, dann essen Sie morgen Mittag mit mir im Hotel Saint-Vincent de Paul. Ich mache Sie dann ganz unter uns mit einigen interessanten Typen bekannt. Einverstanden? Das Menü wird Sie nicht erschrecken: Bouillon à la Rosenkranz, Seezunge à la Immaculata, Tournedos nach Jungfrauenart, Nudelpastete Heiliger Joseph, Heilige-Lands-Creme — dazu Château-Celeste ... Nach dem Kaffee ziehe ich um. Ich hab mir's überlegt. Ich bleibe noch eine Woche hier. Aber dann wird es höchste Zeit für Paris.«

»Ein gutes Werk?«

»Sie sagen es. Ich betreibe die Gründung eines Heims für notleidende junge Mütter.«   - Georges Darien, Der Dieb. Nördlingen 1989 (Die Andere Bibliothek 54, zuerst 1897)

 

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