irenengesang Als Kind hatte er eine Muschel ans Ohr gehalten und in ihr dem Rauschen des Meeres gelauscht. Er fragte sich, ob eine solche Muschel nicht auch andere Geräusche festhalte. So präparierte er das Gehäuse eines Schalentieres; er fabrizierte eine Art mechanische Ohren. Als sie ms Einzugsgebiet des Sirenengesanges kamen, stellte er das Gehäuse auf und band es am Mast fest, weil er unsicher war, ob nicht auch leblose Dinge dem Lockruf des Todes folgten.
Als mir der Immune seine Frühform eines Aufnahmegerätes überreichte und ich hineinhorchte, waren vorerst nur Wellen und Wind auszumachen und ein Flügelschlagen. Doch dann ertönte ein Heulen und Wimmern, ein Schreien und Stammeln, Stimmen jeden Alters, einzeln herausgehoben und durcheinander, ein Ächzen und Stöhnen, das sich steigerte, ein ungeheures Seufzen, so daß mein Trommelfell schmerzte und ich die Muschel voll Entsetzen weit vom Ohr weg hielt.
Ich meinte zunächst, es sei eine mißlungene Aufnahme. Der Immune belehrte
mich: der Sirenengesang sei alles andere als schön, der Lockruf des Todes grauenhaft.
Deswegen gäben sie auch nie einen frei, damit keiner bezeugen könne, daß ihr
Gesang nicht schmeichelnd, sondern abstoßend sei. Die Totenvögel mit ihren Mädchengesichtern
seien Geier. Die Abfälle, von
denen sie sich nährten, seien letzte Seufzer und das allerletzte Stammeln, all
die Laute, die Sterbende im Bruchteil von Sekunden
noch von sich geben. Wohin gingen dieses Weh und Fluchen, die geflüsterten Worte
und abgebrochenen Silben, wenn nicht in die Luft? Würden die Sirenen dieses
Stammeln und Stöhnen nicht fressen, wäre die Luft derart, daß man sie nicht
mehr einatmen könnte. - Hugo Loetscher,
Die Papiere des Immunen. Zürich 1986
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