irene War
nicht Kolumbus Sirenen begegnet? Zwar erblickte er sie am Ende seiner
ersten Reise im Karibischen Meer, aber auch dem Amazonasdelta hätten sie gut
angestanden. »Die drei Sirenen«, schreibt er, »hoben ihre Körper aus dem Wasser,
und ihre runden Gesichter, obwohl nicht ganz so schön, wie man sie auf Bildern
darstellt, wiesen deutlich eine menschliche Form auf.«
Die Seekühe haben einen
runden Kopf und Zitzen auf der Brust; und da die Weibchen ihre Jungen beim Stillen
mit ihren Pfoten an sich drücken, ist eine Identifizierung mit Sirenen nicht
allzu verwunderlich, besonders nicht in einer Zeit, da man der Baumwollpflanze
den Namen Schafsbaum gab und sie als einen Baum beschrieb (und sogar zeichnete),
an dem statt Früchten ganze Schafe hingen, die man nur zu scheren brauchte. -
(
str2
)
Sirene (2) Die aus
Sizilien stammende Mimi Aguglia wurde von dem amerikanischen Regisseur Charles
Frohman entdeckt, der sie 1908 in die Vereinigten Staaten brachte. Als sie fünf
Jahre später erneut nach Amerika kam, trat Aguglia in italienischen Versionen
von Elektra und Oscar Wildes Salomé auf und wurde über Nacht zur
Sensation. Ihr wollüstiger Tanz mit den sieben Schleiern, der damals als skandalös
betrachtet wurde, legte sie für den Rest ihres Lebens auf die Rolle der ›katastrophalen‹
Sirene fest. Der Kritiker der New York Times beteuerte, sie sei »einfach
unmäßig Salomé-ßig«, wenn sie über dem Haupt Johannes' des Täufers »schlängele«,
»wie noch keine Salomé je geschlängelt hat«.
- Djuna Barnes, Portraits. Berlin 1986 (zuerst 1985, orig. 1913 ff)
Sirene (3) Der
Entdecker Grönlands Hudson, sah auf seiner zweiten Reise, am 15. Juni
1608 eine Sirene und die ganze Schiffsmannschaft sah sie mit ihm. Sie schwamm
zur Seite des Schiffs und sah die Schiffsleute starr an. Vom Kopfe bis zum Unterleib
glich sie vollkommen einem Weibe von gewöhnlicher Statur.
Ihre Haut war weiß; sie hatte lange, schwarze, um die
Schultern flatternde Haare. Wenn die Sirene sich umkehrte, so sahen die Schiffsleute
ihren Fischschwanz, der mit dem eines Meerschweins
viel Ähnlichkeit hatte, und wie ein Makrelenschwanz gefleckt war. - Heinrich
von Kleist, Wassermänner und Sirenen
Sirene (4, plumpe)
- Paul Flora, Floras Taschenfauna. Berlin 1964 (Ullstein
Buch 469)
Sirene (5)
So geistreich und intrigant wie Mme. de Blanzac war niemand. Mit welcher
Gewandtheit verstand sie es, die witzigsten und gepfeffertsten Scherze zu formulieren,
und keiner hätte sich mit schärferer Zunge, mit wohlbedachteren Wendungen im
Wortgefecht mit den anderen zu messen vermocht. Dabei war sie der boshafteste,
schwärzeste, arglistigste und gefährlichste Teufel, von abgrundtiefer Falschheit,
sie konnte die wildesten Lügengeschichten und die gräßlichsten Gerüchte mit
so rührend ehrlicher Miene und so schlichter Selbstverständlichkeit vorbringen,
daß sogar diejenigen, die genau wußten, daß an alldem, was sie erzählte, kein
wahres Wort war, ihr bereitwillig glaubten. Bei alledem eine betörende Sirene,
gegen die man sich, auch wenn man sie noch so gut kannte, nur zu wehren vermochte,
indem man sie mied. Im Gespräch war sie bezaubernd, und niemand verstand es,
die lächerlichen Seiten anderer auf so zierlich grausame Weise und so beiläufig
bloßzustellen, selbst wenn es eigentlich gar nichts Lächerliches zu entdecken
gab. Überdies war sie stets auf Liebesabenteuer erpicht, sehr wählerisch, sehr
kokett, solange ihr Gesicht ihr das erlaubte; später wurde sie zugänglicher,
und schließlich richtete sie sich für die niedrigsten Diener
zugrunde. - (
sim
)
Sirene (6)
Unsere alten Künstler und Bildner von Gefäßen stellten auch bärtige,
männliche Sirenen dar. Daß es ein Siren oder eine Sirene ist und kein anderes
Mischwesen, erkennt man am Vorwiegen der Vogelgestalt.
Dieser wird ein menschlicher Kopf hinzugefügt, oft auch Frauenbrüste und -arme.
Die Krallen der Vogelfüße sind manchmal sehr kräftig
gebildet und können in Löwenpranken übergehen, als wollten sie eine nahe Verwandtschaft
zwischen Sirene und Sphinx verraten. Der Unterleib
kann auch wie ein Ei gebildet sein. Die Graien als »schwanenähnliche Jungfrauen«
stehen ihnen nah, nah auch die Medusa, wenn ein Vogel
mit Gorgoantlitz und zwei Paar Flügeln mit jeder Hand einen zappelnden Jüngling
ergreift und entrafft. Ein raffendes Wesen ist freilich eher eine Harpyia,
die nach dieser Funktion so benannt wird, während die Sirenen außer der Vogelgestalt
noch durch jene Kunst charakterisiert werden, welche sie auch mit den Musen
verbindet. Sie halten die Leier oder blasen die Doppelnöte,
oder, wenn sie zu zweien dargestellt werden, musiziert die eine mit diesem,
die andere mit jenem Instrument. Und sie singen dazu. Das besagen die Erzählungen,
besagen auch ihre Namen und man sieht es auf den Darstellungen. Auf den Grabmälern
unserer klassischen Zeit konnte man sie nicht genug bewundem. Dorthin gelangten
sie nicht aus den Fabeleien unserer Schiffer, sondern aus anderen alten, heute
vergessenen, Geschichten. Sie sind freilich, wie die große Göttin Skylla, auch
in die Schiffermärchen hineingeraten. Homer läßt den Erzlügner, Odysseus,
von ihnen erzählen. Bei ihm ist von zwei Sirenen die Rede, die keinen besonderen
Namen haben. Dafür liest man auf einem alten Vasenbild einen Sirenennamen: es
ist Himeropa, »die mit der sehnsuchterweckenden Stimme«. -
(kere)
Sirene (7)
Sirene (8) Im Laufe der Zeit verändern die Sirenen ihre Gestait. Ihr erster Berichterstatter, der Rhapsode des 12. Buches der Odyssee, sagt uns nicht, wie sie aussahen; für Ovid sind sie Vögel mit rötlichem Gefieder und dem Antlitz einer Jungfrau; für Apollonios von Rhodos sind sie von der Leibesmitte aufwärts Frauen, im übrigen Vögel; für den Maestro Tirso de Molina (und für die Heraldik) »zur Hälfte Weiber, zur Hälfte Fische«. Nicht minder unterschiedlich ist ihre Wesensart; Tirso nennt sie Nymphen; das Classical Dictionary von Lemprière versteht unter ihnen Nymphen, der Thesaurus von Quicherat Ungeheuer, der von Gritnal Dämonen. Sie leben auf einer Insel im Sonnenuntergang, nahe bei der Insel der Kirke, doch wurde eine von ihnen, Parthenope, als Leichnam in Kampanien gefunden und gab der berühmten Stadt, die heute Neapel heißt, den Namen. Der Geograph Strabo sah ihr Grab und wohnte den gymnastischen Spielen und Fackelläufen bei, die in bestimmten Zeitabständen zur Ehre ihres Andenkens abgehalten wurden.
Die Odyssee berichtet, daß die Sirenen die Schiffer anlockten und ins Verderben rissen, und daß Odysseus, um ihren Gesang zu hören und doch nicht umzukommen, die Ohren seiner Ruderer mit Wachs verstopfte und ihnen befahl, sie sollten ihn an den Mastbaum fessein. Um ihn zu versuchen, versprachen ihm die Sirenen die Kenntnis aller Dinge der Welt. »Noch keiner ist hier in seinem schwarzen Schiff vorbeigekommen, der nicht aus unserem Munde die Stimme so süß wie Honigwaben vernommen und seine Lust an ihr gehabt hätte und als ein Klügerer weitergefahren wäre. Weil wir alle Dinge wissen: wieviel an Leiden die Argiver und Troer in der weiten Troja auf Beschluß der Götter erduldet haben, und wissen, was in der fruchtbaren Mark geschehen wird« (Odyssee XII). Einer Überlieferung zufolge, die von dem Mythologen Apollodor in seine Bibliotheca aufgenommen wurde, hat Orpheus vom Schiff der Argonauten herab lieblicher gesungen als die Sirenen, worauf diese sich ins Meer stürzten und in Felsklippen verwandelt wurden, weil nach dem Gesetz ihr Leben verwirkt sein sollte, wenn jemand ihren Zauber nicht verspürte. Auch die Sphinx stürzte sich von der Höhe herab, als jemand ihr Rätsel erriet.
Im 6. Jahrhundert wurde im Norden von Wales eine Sirene gefangen und getauft. Unter dem Namen Murgen erschien sie später als Heilige in gewissen alten Jahrbüchern. Eine andere schlängelte sich 1403 durch die Bresche eines Deiches und lebte bis zu ihrem Tode in Haarlem. Niemand verstand sie, aber man lehrte sie die Kunst des Spinnens, und sie verehrte - wie einem Naturtrieb gehorchend - das Kreuz. Ein Chronist des 16. Jahrhunderts folgerte, sie sei kein Fisch gewesen, weil sie spinnen konnte, und sie sei keine Frau gewesen, weil sie im Wasser leben konnte.
Die englische Sprache unterscheidet die klassische Sirene (siren) von denjenigen, die mit einem Fischschwanz ausgestattet sind (mermaids). Bei der Entstehung dieser letzteren Figur mag die Erinnerung an die Tritonen, Gottheiten aus dem Gefolge Poseidons, mitgespielt haben.
Im zehnten Buch von Platons Staat lenken acht Sirenen die Drehung der acht konzentrischen Himmel.
Sirene: angeblich ein Meerestier, lesen wir in einem brutalen Wörterbuch.
-
Jorge Luis Borges, Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991, und
(bo)
Sirene (9)
- N. N.
Sirene (10) Für Kenner ist Juana Pé nicht sehr schön: sie hat einen Makel, zwischen den Schenkeln spannt sich ein kurzes Stück Haut, allerdings nicht zu kurz, denn es reicht beinahe bis zum Schienbein, was sie zwingt, sich mit kleinen Schritten fortzubewegen, aber mit welcher Anmut! Daher trägt sie gern Kleider, in denen sie wie eine Sirene aussieht, aus teuren Stoffen, weil sie grobe Gewebe nicht tragen könnte, in Anbetracht dessen, daß ihr Oberkörper der eines Mannes ist. Aber nicht der eines schönen Mannes: das wäre wenig weiblich, und Juana Pe kann nichts anderes sein als feminin. Der eines häßlichen Mannes: nicht mehr jung, schlaff, faltig, fleckig, picklig. Da Juana Pé sehr weiblich ist, macht sie sich das zunutze und trägt den Ausschnitt bis zum Bauchnabel und krönt das Ganze mit der sonnenhaftesten aller Frisuren. Einen Goldhelm, das verlangt sie vom Friseur, und ein Gebäude solcher Art baut ihr der Friseur auf den Kopf.
Obwohl zimperlich und eitel, ist Juana Pé eine ehrgeizige Frau, diese Leidenschaft
des Geistes kennt keine Grenzen, und so hat sie den Ehrgeiz, Senator und später
Präsident der Republik Italien zu werden. -
(bdm)
Sirene (11)
- Georges Pichard
Sirene (12)
Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern |
- Homer, Odyssee (Übs. Johann Heinrich Voss)
Sirene (13)
Andere Sirenen leben in freundlichen Meeresgrotten, wo die dunkelorangen Seeanemonen,
die roten Seesterne und die braunen Seeigel das Wasser noch klarer und blauer
machen und die farbenprächtigen Fische mit Schwänzen wie von tropischen Vögeln
und Flanken wie aus kostbaren Metallen prunken. Sie jedoch ist die einzige Sirene
in diesem schlammigen, breiten, trüben und trägen Fluß, und sie haust unter
dem schwärzlichen Wrack einer untergegangenen Barke, einem im Schlick verfaulenden
Holzhaufen, zwischen verrosteten Büchsen, Flaschen, glitschigen Schuhen und
platten Fischen, die die Augen auf dem Rücken haben - widerlich. Es gelingt
ihr nicht einmal, ihre Haare sauberzuhalten; sie besitzt nur einen alten, kaputten
schwarzen Plastikkamm, in dem sich immer irgend etwas Ekelhaftes verfängt: Papierfetzen,
Apfelsinenschalen, Schnüre, wie sie der Fluß in seiner unaufhaltsamen Gleichgültigkeit
mit sich führt. Und so ist die Sirene immer schmutzig, zerzaust, und jedesmal,
wenn sie sich ans Ufer wagt, um sich zu kämmen und sich die Dreckkrusten von
den Schuppen zu kratzen, werfen die Kinder des Orts mit Scherben nach ihr, die
Männer machen ihr schweinisehe Anträge, und eines Sonntags kommt sogar, kreuzschwingend,
ein Pfarrer In Begleitung von drei schwarzgekleideten Frauen, um sie zu exorzieren.
- J. Rodolfo Wilcock, Das Stereoskop der Einzelgänger. Freiburg 1995
Sirene (doppelschwänzig, mit Löwin, 14)
- Im
Parco dei Mostri
, nahe Bomarzo (Photo von
Gabriele
Delhey
)
Sirene (15) Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hatte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen. Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.
Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ. Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen. Sie aber - schöner als jemals - streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie sollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhäschen.
Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber
blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen. Es wird übrigens noch ein Anhang
hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher
Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte.
Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist,
wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den
obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten. -
(kaf)
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