ie   Da kommt sie — ein »großer vom Wind gezauster Vogel«, gut ein Meter achtzig groß, überschlank, in fließenden Samt, bauschende Brokate oder sanfte, dunkle Wolle gehüllt, nicht à la mode gewandet, sondern nach ihrem eigenen Kopf — diesem Kopf eines exotischen Raubvogels mit dem
 

Haltung, weibliche


»Schnabel einer Harpyie«

und der hohen Stirn über den tiefliegenden, kühl-melancholischen Plantagenet-Augen, die gekrönt wird von phantastischem Federputz, die langen Hände mit den silbern oder perlmutten gelackten Fingernägeln und die schmalen Handgelenke beschwert von riesigen Ringen und Reifen ... Es ist Edith Sitwell, Dame of the British Empire in höherem Alter.  - Aus dem Vorwort zu Edith Sitwell, Englische Exzentriker. Berlin 2000 (Wagenbach Salto 93, orig, 1933)

Sie (2)  Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß mich jemand hinter den Vorhängen anschaute. Ich sah niemanden, spürte aber ganz deutlich einen Blick auf mir ruhen, der eine ganz sonderbare Wirkung auf meine Nerven ausübte. Ohne daß ich wußte, warum, stieg Angst in mir auf. Es war freilich ein seltsamer Raum, der trotz der prächtigen Vorhänge und des sanften Lampenlichts merkwürdig leer und verlassen wirkte. Tiefe Stille herrschte, und Billali  lag wie tot vor den schweren Vorhängen, durch die der Duft eines Parfums zu der dunklen, gewölbten Decke emporzuschweben schien. Minute um Minute verging, und immer noch gab es kein Lebenszeichen, rührte sich der Vorhang nicht; doch ich spürte, wie dieser Blick immer tiefer in mich eindrang und mich mit namenlosem Entsetzen erfüllte, bis mir Schweißperlen auf der Stirne standen.

Endlich bewegte sich der Vorhang. Wer mochte hinter ihm verborgen sein — eine nackte Kannibalenkönigin, eine schmachtende orientalische Schönheit oder eine junge Dame aus dem neunzehnten Jahrhundert, die ihren Nachmittagstee trank? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung und würde mich über nichts gewundert haben. Mich konnte nichts mehr so leicht in Staunen versetzen. Der Vorhang also bewegte sich ein wenig, und plötzlich erschien zwischen seinen Falten eine wunderschöne

Hand, weiß wie Schnee, mit langen, schlanken Fingern und rosenroten Nägeln. Die Hand ergriff den Vorhang und schob ihn zur Seite, und zugleich vernahm ich eine Stimme, die silberhellste und doch sanfteste Stimme, die ich je gehört. Sie erinnerte mich an das Murmeln eines Baches.

»Fremdling«, sagte die Stimme auf arabisch — doch es war ein viel reineres Arabisch, als es die Amahagger sprachen —, »Fremdling, warum fürchtest du dich so sehr?«

Da ich mir einbildete, trotz meines inneren Entsetzens meine Fassung recht gut bewahrt zu haben, setzte mich diese Frage ein wenig in Erstaunen. Bevor mir jedoch eine Antwort einfiel, wurde der Vorhang ganz zurückgeschlagen, und eine schlanke Gestalt stand vor uns. Ich sage Gestalt, denn nicht nur der Körper, sondern auch das Gesicht war in einen weichen, weißen, schleierartigen Stoff gehüllt, so daß ich im ersten Augenblick eine Leiche im Grabgewand zu sehen glaubte. Dennoch weiß ich nicht, wie ich auf diesen Gedanken kam, denn das Gewand war so dünn, daß darunter deutlich der Schimmer rosigen Fleisches sichtbar war — vermutlich war die Art, wie das Tuch drapiert war, schuld daran. Jedenfalls erschrak ich zutiefst vor dieser geisterhaften Erscheinung, und das Haar auf meinem Kopf sträubte sich, während mich ein Gefühl beschlich, als stünde ich einem Spukbild gegenüber. Dabei konnte ich genau erkennen, daß die eingehüllte, mumienhafte Gestalt vor mir die einer schlanken, lieblichen Frau von vollkommener Schönheit und einer merkwürdigen, schlangenhaften Anmut war, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

»Warum fürchtest du dich so sehr, Fremdling?« fragte die süße Stimme noch einmal — eine Stimme, die mir wie wohlklingende Musik tief zu Herzen ging. »Ist etwas an mir, das einem Manne Angst macht? Dann müssen die Männer sich sehr verändert haben!« Und mit einer kleinen koketten Bewegung wandte sie sich ein wenig zur Seite, hob ihren Arm und zeigte mir ihre ganze Lieblichkeit und ihr volles rabenschwarzes Haar, das in sanften Wellen über ihr weißes Gewand fast bis zu ihren mit Sandalen bedeckten Füßen hinabwallte.

»Deine Schönheit ist es, die mir Angst macht, o Königin«, erwiderte ich demütig, ohne mir meiner Worte recht bewußt zu sein, und mir war, als hörte ich den alten Billali, der immer noch lang ausgestreckt auf dem Boden lag, leise murmeln: »Gut, mein Pavian, gut gesagt!«

»Wie ich sehe, versteht ihr Männer es immer noch, uns Frauen durch Schmeicheleien zu betören. Nein, Fremdling«, erwiderte sie mit einem Lachen, das wie fernes Läuten silberner Glocken klang, »du fürchtest dich, weil mein Blick in dein Herz drang — deshalb fürchtest du dich. Doch da ich eine Frau bin, verzeihe ich dir, denn du hast nur aus Höflichkeit gelogen. Aber jetzt sage mir: Wie kamst du hierher ins Land der Höhlenbewohner — ins Land der Sümpfe und der bösen Mächte und der Schatten der Toten? Was sucht ihr hier? Warum ist euch euer Leben so wenig wert, daß ihr es in die Hand Hiyas, in die Hand der Herrscherin ›Sie‹ legt? Erzähle mir, woher du meine Sprache kennst? Es ist eine uralte Sprache, ein anmutiges Kind des Syrischen. Ist sie noch am Leben in der Welt? Wie du siehst, wohne ich inmitten von Höhlen und Toten und weiß nichts von den Angelegenheiten der Menschen.  - Henry Rider Haggard, Sie. Zürich 1970 (zuerst ca. 1886)

Sie (3) Ihre Frühreife. Sie wünscht allen zu gefallen. Ihr Gehorsam und ihre Furcht vor dem Vater. Ihre Decenz und doch ihre unschuldige Treuherzigkeit. Ihr Steifsinn und ihre Schmiegsamkeit gegen Leute, die sie einmal schäzt, oder die sie fürchtet. Ihr Betragen in der Kranckheit. Ihre Launen. Wovon spricht sie gern - Artigkeit gegen Fremde. Wolthätigkeit. Hang zum kindischen Spiel. Anhänglichkeit an Weiber. Ihre Urtheile. Gesinnungen. Anzug. Tanz. Geschäftigkeit im Hause. Liebe zu ihren Geschwistern. Musikalisches Gehör. Ihre Lieblinge. Geschmack. Religiosität. Freyer Lebensgenuß. Ließt sie gern. Hang zu weiblichen Arbeiten. / Sie will nichts seyn - Sie ist etwas. / Ihr Gesicht - ihre Figur - ihr Leben, ihre Gesundheit- ihre politische Lage / Ihre Bewegungen. Ihre Sprache. Ihre Hand. Sie macht nicht viel aus Poësie. Ihr Betragen gegen andre, gegen mich. Offenheit.

/ Sie scheint noch nicht z[u] eigentlichen reflectiren gekommen zu seyn - Kam ich doch auch erst in einer gewissen Periode dazu. / Mit wem ist Sie zeitlebens umgegangen. Wo ist Sie gewesen? Was ißt Sie gern. Ihr Betragen gegen mich. Ihr Schreck für der Ehe. / Ich muß Sie recht nach Ihren Eigenheiten fragen - So auch die M[andelsloh]. / Ihre Art sich zu freuen - zu betrüben. Was ihr am meisten von Menschen und Sachen gefallen. Ist ihr Temperament erwacht? Was Sie zur Justen gesagt hat. Ihr Tabaksrauchen. Ihre Anhänglichkeit an die Mutter, als Kind. Die Anekdote mit Seimniz - von Bretern. Ihre Dreistigkeit gegen den Vater. Ihre Confirmation. Sie hat v[on] d[er] Machere Einmal Schläge gekriegt. Je reviens. Ihre Gespensterfurcht. Ihre Wirthschaftlichkeit. Heynemann. Drey Reuter ritten ums Thor herum. Wie sie den Dieb hat halten wollen. Gesicht bey Zoten. Talent nachzumachen. Ihre Wolthätigkeit. Urtheile über Sie. Sie ist mäßig - wolthätig. Sie ist irritabel - sensibel. Ihr Hang Gebildet zu seyn — Ihr Abscheu für dem Vexiren, dem Getratsche; Ihre Achtsamkeit auf fremde Urtheile. Ihr Beobachtungsgeist. Kinderliebe. Ordnungsgeist. Herrschsucht. Ihre Sorgfalt und Passion für das Schickliche - Sie will haben, daß ich überall gefalle. Sie hats übel genommen, daß ich mich zu früh an die Eltern gewandt habe, und es mir zu bald und zu allgemein merken lassen. Sie hört gern erzählen. Sie will sich nicht durch meine Liebe geniren lassen. Meine Liebe drückt sie oft. Sie ist kalt durchgehends.

/ Ungeheure Verstellungsgabe, Verbergungsgabe der Weiber überhaupt. Ihr feiner Bemerkungsgeist. Ihr richtiger Takt. / / Alle Weiber haben das, was Schlegel an d[erJ schönen Seele tadelt /

/ Sie sind vollendeter, als wir. Freyer, als wir. Gewöhnlich sind wir besser. Sie erkennen besser, als wir - Ihre Natur scheint unsre Kunst - unsre Natur ihre Kunst zu seyn. Sie sind geborne Künstlerinnen. / / Sie individualisiren, wir universalisiren. / Sie glaubt |pi kein künftiges Leben - aber an die Seelenwanderung. Schlegel interressirt sie. Sie kann zu grosse Aufmercksamkeit nicht leiden und nimmt doch Vernachlässigung übel. Sie fürchtet sich so für Spinnen und Mäusen. Sie will mich immer vergnügt. Die Wunde soll ich nicht sehn. Sie läßt sich nicht dutzen. Ihr H auf der Wange. Lieblingsessen - Kräutersuppe - Rindfleisch und Bohnen — Aal. Sie trinckt gern Wein. Sieht gern etwas - liebt d[ie] Komoedie. Sie denkt mehr über andre, als über sich nach. - Novalis

Sie (4)  spricht weiter über Henriette, vielleicht auch über sich selbst. Ihre kleine schwarze Kappe, ihre Handtasche und ihr Pelz liegen neben ihr auf der Bank. Alle paar Augenblicke zündet sie eine neue Zigarette an, die verqualmt, während sie spricht. Ihre Rede hat weder Anfang noch Ende, sie bricht wie eine Flamme aus ihr hervor und verzehrt alles Erreichbare. Man weiß nicht, an welcher Stelle sie begann. Plötzlich ist sie mitten in einer langen, neubegonnenen Geschichte, aber es ist immer dieselbe. Ihre Rede ist so formlos wie ein Traum: es gibt keine Gleitschienen, keine Kulissen, keine Abgänge, keine Pausen. Ich habe das Gefühl, in einem tiefen Netz von Worten zu versinken, mich mühsam zum Rande des Netzes emporzuarbeiten, in ihre Augen zu blicken und zu versuchen, darin einen Reflex der Bedeutung ihrer Worte zu finden - aber ich kann nichts finden, nichts außer meinem eigenen, in dem grundlosen Quell flimmernden Bild. Obwohl sie von nichts anderem als von sich selber spricht, kann ich mir nicht das leiseste Bild von ihrem Wesen machen. Sie lehnt sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und ihre Worte überschwemmen mich; Welle um Welle brandet über mich hin, und doch baut sich nichts in mir auf, nichts, woran sich mein Geist klammern könnte. Sie erzählt mir von ihrem Vater, von dem seltsamen Leben, das sie am Rande von Sherwood Forest, wo sie geboren wurde, führten; wenigstens wollte sie mir das erzählen, aber nun spricht sie wieder über Henriette, oder von Dostojewski? - ich bin mir nicht sicher -, aber jedenfalls merke ich plötzlich, daß sie nicht mehr darüber spricht, sondern über einen Mann, der sie eines Abends nach Hause brachte und, als sie auf der Vortreppe standen und sich gute Nacht sagten, sich plötzlich bückte und ihr unter den Rock griff. Sie hält einen Augenblick inne, wie um mir zu versichern, daß es diese Geschichte ist, worüber sie sprechen möchte. Ich sehe sie verwirrt an. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir auf dieses Thema gekommen sind. Was für ein Mann? Was hat er zu ihr gesagt? Ich lasse sie weiterreden, da ich vermute, sie würde darauf zurückkommen, aber nein, sie eilt mir schon wieder voraus, und nun, scheint es, ist der Mann, dieser Mann, bereits tot, ein Selbstmord, und sie versucht mir begreiflich zu machen, daß das ein schrecklicher Schlag für sie war, aber in Wirklichkeit ist ihren Worten zu entnehmen, daß sie stolz darauf ist, einen Mann zum Selbstmord getrieben zu haben. Ich kann mir den Mann nicht tot vorstellen; ich sehe ihn nur, wie er auf den Stufen der Vortreppe stand und ihr den Rock hochhob, ein Mann ohne Namen, aber lebendig und für immer in der Bewegung erstarrt, mit der er sich bückt, um ihren Rock hochzuheben. Da ist noch ein anderer Mann, ihr Vater, und ich sehe ihn mit einer Reihe von Rennpferden oder manchmal in einem kleinen, vor den Toren Wiens gelegenen Gasthof. Oder häufiger sehe ich ihn auf dem Dach dieses Gasthofs, wie er zum Zeitvertreib Drachen steigen läßt. Und ich kann den Mann, der ihr Vater war, und den, in den sie sich toll verliebt hatte, nicht auseinanderhalten. Es gibt jemanden in ihrem Leben, von dem sie lieber nicht sprechen möchte, aber doch kommt sie immer wieder auf ihn zurück, und obwohl ich nicht sicher bin, daß es sich nicht um den Mann handelt, der ihr den Rock hochgehoben hat, bin ich ebensowenig sicher, daß nicht der Mann gemeint ist, der Selbstmord beging. Vielleicht handelt es sich um den Mann, von dem sie zu sprechen begann, als wir uns zum Essen setzten. Ich entsinne mich jetzt, daß sie, gerade als wir Platz nahmen, ziemlich aufgeregt von einem Mann zu sprechen begann, den sie soeben hatte in die Cafeteria hereinkommen sehen. Sie nannte sogar seinen Namen, aber ich vergaß ihn augenblicklich. Doch erinnere ich mich, wie sie sagte, sie habe mit ihm zusammen gelebt, und wie sie hinzufügte, daß er etwas getan habe, was ihr mißfallen hatte - was, sagte sie nicht -, sie war ihm daher davongelaufen, hatte ihn ohne ein Wort der Erklärung stehenlassen. Und dann, gerade als wir in das chinesische Lokal hereinkamen, begegneten sie sich unter der Tür, und sie zitterte noch, als wir uns in unsere kleine Nische setzten... Einen langen Augenblick habe ich ein höchst unbehagliches Gefühl. Vielleicht war jedes Wort, das sie sagte, eine Lüge. Keine gewöhnliche Lüge, nein, etwas Schlimmeres, etwas Unbeschreibliches. Manchmal freilich bricht auf diese Weise die Wahrheit hervor, besonders wenn man glaubt, man werde seinen Begleiter nie wiedersehen. Manchmal kann man einem völlig Fremden erzählen, was man nie wagen würde, seinem engsten Freund anzuvertrauen. Es ist dasselbe, wie wenn man mitten in einer Gesellschaft einschläft; man beschäftigt sich so sehr mit sich selbst, daß man einschläft. Und im tiefen Schlaf beginnt man mit jemandem zu sprechen, jemand, der die ganze Zeit im gleichen Raum mit einem war und daher alles versteht, obwohl man mitten im Satz beginnt. Und vielleicht schläft auch diese andere Person ein oder hatte immer schon geschlafen, und darum ist es so leicht, ihm das Herz auszuschütten, und wenn er kein störendes Wort sagt, dann weißt du, daß das, was du ihm erzählst, wirklich und wahr ist und daß du hellwach bist und es keine andere Wirklichkeit gibt, als mitten im Schlaf hellwach zu sein. Nie zuvor war ich gleichzeitig so hellwach und tief im Schlaf gewesen. Hätte das Ungeheuer meiner Träume wirklich die Gitterstäbe auseinandergebogen und mich bei der Hand ergriffen, so wäre ich auf den Tod erschrocken und wäre daher heute tot, das heißt für ewig in Schlaf gesunken und daher immer frei, und nichts mehr erschiene mir an der Wahrheit seltsam oder unwahr, auch wenn das Geschehene nicht geschah. Was geschah, mußte vor langer Zeit, zweifellos in der Nacht, geschehen sein. Und was in diesem Augenblick geschieht, geschieht auch vor langer Zeit in der Nacht, und ist nicht wahrer als der Traum von dem Ungeheuer und den Gitterstäben, die nicht nachgeben wollten, nur daß jetzt die Gitterstäbe zerbrochen sind und daß sie, die ich fürchtete, mich bei der Hand hält, ohne daß ein Unterschied besteht zwischen dem, was ich fürchtete, und dem, was ist, denn ich schlief, und jetzt bin ich hellwach im Schlaf, und es gibt nichts mehr zu fürchten, auch nichts zu erwarten oder zu erhoffen, sondern nur das, was ist und kein Ende kennt.

Sie möchte gehen. Gehen... Wieder ihr Hüftenwiegen, das schlüpfrige Gleiten, mit dem sie aus der Tanzdiele herunterkam und in mich hineinschritt. Wieder ihre Worte... «Plötzlich, ohne jeden Grund, beugte er sich herunter und hob mir den Rock hoch.» Sie legte sich ihren Pelz um den Hals; die kleine schwarze Kappe hebt ihr Gesicht wie eine Kamee hervor. Das runde, volle Gesicht mit den slawischen Backenknochen. Wie konnte ich es träumen, ohne es je gesehen zu haben? Wie konnte ich wissen, daß sie so aufstehen würde, so nah und voll, das Gesicht bleich und blühend wie eine Magnolie? Ich zittere, als mich ihr voller Schenkel streift. Sie scheint sogar ein wenig größer als ich zu sein, obwohl das nicht der Fall ist. Es ist nur die Art, wie sie ihr Kinn hält. Sie achtet nicht darauf, wohin sie geht. Sie schreitet über die Dinge hinweg, weiter und weiter mit weit geöffneten Augen, die in den Raum starren. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Sogar die Gegenwart scheint fraglich. Das Ich scheint sie verlassen zu haben; ihr Leib eilt vorwärts; der Hals ist voll und straff, weiß und gerundet wie das Gesicht. Ihre tiefe, kehlige Stimme spricht weiter, kein Anfang, kein Ende. Nicht die Zeit oder das Verstreichen der Zeit kommt mir zum Bewußtsein, sondern die Zeitlosigkeit. Die kleine Gebärmutter, die in ihrer Kehle sitzt, ist mit der großen im Becken gekoppelt. Das Taxi wartet am Gehsteig, und sie kaut noch immer auf der kosmologischen Spreu des äußeren Ichs herum. Ich ergreife das Sprachrohr und setze mich mit der doppelten Gebärmutter in Verbindung. Hallo, hallo, sind Sie da? Brechen wir auf! Machen wir weiter - Taxis, Schiffe, Züge, Motorboote, Küsten, Wanzen, Oberlandstraßen, Seitenwege, Ruinen; Relikte, Alte Welt, Neue Welt, Mole, Landesteg; große Geburtszange, schwingendes Trapez, Graben, Delta, Alligatoren, Krokodile, Reden, Reden und wieder Reden, und wieder neue Straßen und noch mehr Staub in den Augen, noch ein Regenbogen, noch mehr Wolkenbrüche, Frühstücke, mehr Hautcremes und Schönheitswasser. Und wenn alle Straßen begangen sind und nur noch der von unseren gehetzten Füßen aufgewirbelte Staub übriggeblieben ist, wird doch die Erinnerung bleiben an dein großes, volles, weißes, ach so weißes Gesicht und den breiten Mund mit geöffneten, frischen Lippen und den kalkweißen Zähnen, von denen jeder vollkommen ist, und an dieser Erinnerung kann sich unmöglich etwas ändern, denn sie ist, wie deine Zähne, vollkommen ...  - (wendek)

Sie (5)   Ihre Lippen waren schön geteilt, mit einer dicken Paste dunklen Blutes nachgezeichnet. Ich beobachtete sie geöffnet oder geschlossen mit äußerstem Entzücken, ob sie haßvoll wie eine Viper zischten oder gurrten wie eine Turteltaube. Sie waren immer dicht vor mir, wie bei einer Großaufnahme im Film, so daß ich jede Vertiefung, jede Pore kannte, und wenn das hysterische Schäumen begann, beobachtete ich, wie der Speichel schäumte und spritzte, als säße ich in einem Schaukelstuhl unter den Niagarafällen. Ich lernte meine Rolle: zu handeln, als sei ich ein Teil ihres Organismus; ich war besser als die Puppe eines Bauchredners, denn ich konnte handeln, ohne daß man mich heftig an Schnüren zu ziehen brauchte. Von 2eit zu Zeit tat ich Dinge aus dem Stegreif, die ihr manchmal sehr behagten; sie gab natürlich vor, diese Überraschungen nicht zu merken, aber ich konnte immer an der Art, wie sie sich das Gefieder putzte, merken, ob sie ihr gefielen. Sie hatte die Gabe der Verwandlung; sie war fast so rasch und geschickt wie der Teufel. Neben der Rolle des Panthers und des Jaguars lag ihr besonders die Rolle des Vogels: des wilden Reihers, des Ibis, des Flamingos, des brünstigen Schwans. Sie hatte eine Art, plötzlich auf einen niederzustoßen, als habe sie Aas erspäht, sie bohrte sich geradewegs in die Eingeweide, stürzte sich sogleich auf die Leckerbissen -Herz, Leber oder Eierstöcke - und war im Nu wieder fort. Wenn jemand sie erspähte, lag sie still wie ein Stein am Fuß eines Baumes, die Augen halb geschlossen, aber unbeweglich mit dem starren Blick des Basilisken. Stachelte man sie ein wenig auf, wurde sie eine Rose, eine tief schwarze Rose mit samtenen Blütenblättern und überwältigendem Duft. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit ich meine Rolle lernte; ganz gleich, wie rasch die Verwandlung vor sich ging, ich saß immer auf ihrem Schoß, ob Vogelschoß, Tierschoß, Schlangenschoß, Rosenschoß: dem Schoß der Schöße, der Lippe der Lippen, Spitze auf Spitze, Feder auf Feder, Dotter im Ei, Perle in der Auster, Krebsschere, Tinktur aus Samen und spanischen Fliegen. Unser Leben war Skorpion im Aspekt des Mars, der Venus, des Saturns, des Uranus und so weiter. Liebe war eine Konjunktivitis der Mandibeln, pack dies, pack das, pack, pack, das mandibulare Pack-pack des Mandala-Rades der Lust. Wenn die Essenszeit gekommen war, konnte ich sie bereits die Eier schalen hören, und im Innern des Eies ein piep-piep ein gesegnetes Omen für die nächste Mahlzeit. Ich aß wie ein Monomane: die anhaltende traumerleuchtete Gier eines Menschen, der dreifach sein Fasten bricht. Und während ich aß, schnurrte sie: das rhythmische, räuberische Keuchen des Sukkubus, der sein Junges verschlingt. Was für eine selige Liebesnacht! Speichel und Samen, Dämonie, Schließmuskelspiel, alles in einem; die Eheorgie im Schwarzen Loch von Kalkutta.  - (wendek)

Sie (6)  Plötzlich fühle ich sie kommen. Ich wende den Kopf. Richtig, da kommt sie, mit vollen Segeln und leuchtenden Augen. Zum erstenmal nehme ich ihre Haltung wahr. Sie kommt heran wie ein Vogel, ein menschlicher, in einen großen weichen Pelz gehüllter Vogel. Kommt mit Volldampf daher; ich möchte schreien, ein Signal hinausschmettern, das die Welt die Ohren spitzen läßt. Was für ein Gang! Es ist kein Gehen, es ist ein Gleiten. Groß, majestätisch, in der Fülle ihres Fleisches, selbstbeherrscht durchschneidet sie den Rauch, die Jazzmusik und den RotHchtschimmer wie die Königinmutter aller schlüpfrigen babylonischen Huren. Das spielt sich am Broadway ab, direkt der Bedürfnisanstalt gegenüber. Der Broadway ist ihr Reich. Das hier ist der Broadway, ist New York, ist Amerika, Sie ist Amerika auf zwei Beinen, mit Flügeln und Geschlecht. Sie ist das Lubet, das Abscheuliche und das Veredelte, mit einem kleinen Spritzer Salzsäure, Nitroglyzerin, Laudanum und pulverisiertem Onyx.  Sie hat Fülle und Erhabenheit, sie ist Amerika, «right or wrong», auf beiden Seiten eingerahmt vom Meer. Zum erstenmal in meinem Leben trifft mich der ganze Kontinent mit voller Wucht, ein Schlag zwischen beide Augen. Das ist Amerika, Büffel oder Nichtbüffel, Amerika, der Schleifstein von Hoffnung und Enttäuschung. Alles, was Amerika ausmachte, machte auch sie aus: Knochen, Blut, Muskel, Augapfel, Gang, Rhythmus, Haltung, Zuversicht, Schamlosigkeit und leeres Gedärm. Sie erdrückt mich fast, das volle Gesicht schimmert wie Kalzium. Der große weiche Pelz gleitet von ihrer Schulter. Sie beachtet es nicht. Es scheint ihr gleichgültig zu sein, ob ihre Kleider von ihr abfallen. Alles kümmert sie einen Dreck. Das ist Amerika, das wie ein Blitz in das Glaswarenhaus rotblütiger Hysterie niederfährt. Amurrika mit oder ohne Pelz, mit oder ohne Schuhe. Amurrika cod. Und haut ab, ihr Saukerle, bevor wir euch umlegen! Es ist mir in die Eingeweide gefahren. Ich zittere. Etwas kommt auf mich zu, und es gibt kein Ausweichen. Sie kommt, den Kopf voraus, durch die dicke Fensterscheibe. Wenn sie nur eine Sekunde stehenbliebe, nur einen Augenblick von mir lassen wollte. Aber nein, sie gewährt mir keinen Augenblick. Rasch, unbarmherzig, gebieterisch wie das Schicksal selber stürzt sie auf mich, ein Schwert, das mich durch und durch spaltet... - (wendek)

Frau Person
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Versuchung
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