Sich trösten    »Welches Entsetzen und welche Erschütterung überfiel mich, als der erste Gegenstand, auf den bei der Rückkehr meine Augen fielen, mein kleiner Freund war, der schelmische Gefährte meines Lebens, aufgehängt an der Tür dieses Schrankes! Seine Füße berührten fast den Boden, ein Stuhl, den er ohne Zweifel mit dem Fuß weggestoßen hatte, lag, umgeworfen, neben ihm, sein Kopf war krampfhaft auf eine Schulter geneigt; sein Gesicht, aufgedunsen, und seine Augen, in erschreckender Starrheit weit geöffnet, ließen mich zuerst glauben, daß er noch lebte. Ihn abzunehmen war kein so leichtes Geschäft, das können Sie mir glauben. Er war schon ganz steif, und ich empfand einen unerklärlichen Widerwillen, ihn plötzlich und hart auf den Boden fallen zu lassen. Ich mußte den ganzen Körper mit einem Arm stützen und mit der Hand des anderen Armes den Strick abschneiden. Aber selbst damit war noch nicht alles geschafft; das kleine Ungeheuer hatte eine sehr dünne Schnur benutzt, die sich tief ins Fleisch eingeschnitten hatte, und ich mußte erst mit einer dünnen Schere den Strick zwischen den beiden Wülsten der angeschwollenen Haut heraussuchen, um ihm den Hals freizumachen,

»Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich laut um Hilfe gerufen hatte; aber alle meine Nachbarn hatten sich geweigert mir Beistand zu leisten, getreu den Gewohnheiten des gesitteten Menschen, der niemals, ich weiß nicht warum, mit einem Gehenkten zu tun haben will. Endlich erschien ein Arzt, der feststellte, daß der Tod des Jungen vor mehreren Stunden erfolgt sei. Als wir ihn später für das Begräbnis zu entkleiden hatten, war die Todesstarre so weit vorgeschritten, daß wir, ohne jede Hoffnung die Glieder biegen zu können, die Kleider aufreißen und zerschneiden mußten, um sie ihm abzunehmen.

»Der Polizeikommissar, dem ich natürlich das Unglück melden mußte, sah mich von der Seite an und sagte: >Eine etwas verdächtige Sache!<, veranlaßt, wahrscheinlich durch alteingewurzelten Drang und Berufsgewohnheit, aufs Geratewohl, dem Unschuldigen wie dem Schuldigen Angst einzujagen.

»Blieb noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, die mir, wenn ich bloß daran dachte, schreckliche Beklemmung verursachte: ich mußte seine Eltern benachrichtigen. Meine Füße weigerten sich, mich zu ihnen zu tragen. Schließlich fand ich den Mut dazu. Aber zu meiner großen Verwunderung blieb die Mutter ganz gefühllos; nicht eine Träne sickerte aus ihrem Augenwinkel. Ich schob dieses seltsame Verhalten auf das Entsetzen, das sie verspüren mußte, und erinnerte mich dabei an das bekannte Sprichwort: >Die schlimmsten Schmerzen sind die stummen Schmerzen.< Der Vater begnügte sich mit halb stumpfer, halb verträumter Miene zu sagen: Schließlich ist es vielleicht besser so; es hätte auf jeden Fall ein schlimmes Ende mit ihm genommen!< Unterdessen lag der Tote auf meinem Sofa, und ich war gerade dabei, unter Beistand einer Bedienerin, die letzten Vorbereitungen zu treffen, als die Mutter in mein Atelier trat. Sie möchte, sagte sie, den Leichnam ihres Sohnes sehen. Ich konnte sie wahrhaftig nicht verhindern, sich von ihrem Unglück berauschen zu lassen und ihr diesen letzten, düsteren Trost zu versagen. Sie bat mich ihr die Stelle zu zeigen, an der ihr Kleiner sich erhängt hatte. >Oh! nein! liebe Frau<, - antwortete ich ihr, - >das würde Sie quälen.< Und wie meine Augen unwillkürlich auf den Unglücksschrank fielen, sah ich mit Grauen, Schrecken und Zorn, daß der Nagel in der Tür stecken geblieben war, mit einem langen Stück des Strickes, der noch an ihm hing. Mit raschem Griff gelang es mir, diese letzten Spuren des Unglücks abzureißen, aber wie ich sie aus dem Fenster werfen wollte, packte mich das arme Weib am Arm und sagte mit einer Stimme, der ich nicht widerstehen konnte: >Oh! Lieber Herr! Überlassen Sie mir das! Ich bitte Sie! Ich flehe Sie an!< Ihre Verzweiflung hatte sie wohl, so schien es mir, derart von Sinnen gebracht, daß sie ihre Zärtlichkeit jetzt den Dingen zuwandte, die den Tod ihres Sohnes herbeigeführt hatten, um sie als ein schreckliches und teures Andenken zu behalten. - Und sie bemächtigte sich des Nagels an der Schnur.

»Endlich! Endlich! Alles war vollbracht. Ich selbst hatte nichts anderes zu tun, als mich wieder an die Arbeit zu machen, eifriger noch als sonst, um allmählich diesen kleinen Leichnam, der die letzten Windungen meines Gehirns heimsuchte und dessen Gespenst mich mit seinen großen starren Augen quälte, zu verjagen. Doch tags darauf erhielt ich ein ganzes Paket von Briefen, einige von den Hausbewohnern, andere aus den Nachbarhäusern; einen aus dem ersten Stockwerk, andere aus dem zweiten und dritten und so fort, die einen in halb scherzhaftem Stil, als ob die Schreiber versuchen wollten, die Aufrichtigkeit ihrer Bitte unter augenscheinlichem Geschwätz zu verbergen, die anderen voll plumper Unverschämtheit und voll von Rechtschreibungsfehlern, aber alle verrieten die gleiche Absicht: sie wollten ein Stück des unheilvollen und zur Seligkeit verhelfenden Strickes von mir erlangen. Ich muß sagen, daß sich unter den Unterzeichneten mehr Frauen als Männer befanden; aber nicht alle, glauben Sie mir, gehörten der niedrigsten Klasse des Volkes an. Ich habe diese Briefe aufbewahrt.

»Und da, plötzlich, wurde es Licht in meinem Gehirn, und ich begriff, warum der Mutter soviel daran gelegen war, mir die Schnur zu entreißen und mit welchem Handel sie sich zu trösten beabsichtigte.«    - Charles Baudelaire, Die Tänzerin Fanfarlo. In: C. B., Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Zürich 1977

Trost

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