Sibylle   Bei der Rückkehr von seinem Eroberungszug nach Indien hörte König Alexander in Babylon von einer jungen Sibylle, die die Zukunft weissagen konnte, und ließ sie vor seinen Thron holen. Als die dunkeläugige Person eine Belohnung verlangte, ließ er von einem Soldaten einen Schrein voll herrlicher Edelsteine bringen, die in der halben Welt zusammengerafft worden waren. Die Sibylle wühlte in dem Schrein, suchte sich zwei Smaragde und eine Perle aus und erklärte sich dann bereit, den Wunsch des Königs zu erfüllen und Ihm anzuvertrauen, was sie noch niemand gesagt hatte.

Sehr langsam und gewissenhaft, immer mit erhobenem Finger ihm einschärfend, er solle ihr - da sie kein Wort wiederholen dürfe - mit größter Aufmerksamkeit zuhören, setzte sie ihm auseinander, mit welchen seltenen Hölzern der heilige Scheiterhaufen zu errichten, mit welchen Anrufungen er anzuzünden sei und welche Teile von einer Katze und einem Krokodil man darauflegen müsse. Darauf schwieg sie lange. 'Nun, König Alexander', sagte sie endlich, 'komme ich zu dem Kern meines Geheimnisses. Doch ich sage kein Wort mehr, wenn du mir nicht den großen Rubin gibst, den du dem Soldaten, der den Schrein brachte, befohlen hast, vorher beiseite zu legen.' Alexander trennte sich ungern genug von dem Stein, den er zu Hause Thais, seiner Geliebten, hatte schenken wollen, doch glaubte er nicht mehr leben zu können, wenn er nicht den Rest ihrer Zauberweisheit erführe. Also ließ er den Stein bringen und gab ihn der Sibylle.

'Höre denn, Alexander', sagte die Frau, indem sie den Finger auf des Königs Lippen legte. 'Im Augenblick, da du in den Rauch schaust, darfst du nicht an das linke Auge eines Kamels denken. An das rechte Auge zu denken, ist schon gefährlich genug. Aber an das linke zu denken, bedeutet Verderben.'    - Tania Blixen, Widerhall. Letzte Erzählungen. München 1968

Sibylle (2)  Beim Eintreten passierte ich die große, gasgefüllte Grotte, in der der schwere, steinerne Thron der Sibylle feucht im Halbdunkel schimmerte; es brannten nur wenige spärliche Fackeln ...

Ich hielt inne und erstarrte stumm, als ich etwas sah, auf das mir nie zuvor ein Blick erlaubt gewesen war. Die Si­bylle, das lange schwarze Haar zu einem festen Knoten ge­schlungen, die Arme bedeckt, saß vornübergeneigt auf ihrem Thron - und dann sah ich, daß sie nicht allein war.

Vor ihr standen zwei Geschöpfe, in einer runden Blase. Sie erinnerten an Menschen, aber jedes von ihnen hatte ein zu­sätzliches - ich bin selbst jetzt noch nicht sicher, was sie hatten, aber sie waren keine Sterblichen. Sie waren Götter. Sie hatten Schlitze anstelle der Augen, ohne Pupillen. Statt der Hände hatten sie Greifscheren wie ein Krebs. Ihre Münder waren nur Löcher, und ich erkannte, daß sie, mögen die Götter uns bewahren, stumm waren. Sie schienen über eine lange Schnur, die an beiden Enden je einen Kasten hatte, zu der Sibylle zu sprechen. Eins der Geschöpfe hielt sich das Kästchen seitlich an den Kopf, und die Sibylle lauschte an dem Kasten an ihrem Ende. Auf dem Kasten befanden sich Zahlen und Knöpfe, und die Schnur war aufgerollt und reichlich vorhanden, damit man sie dehnen konnte.

Das waren die Unsterblichen. Aber wir Römer, wir Sterblichen, hatten geglaubt, alle Unsterblichen hätten die Welt schon vor langem verlassen. So war es uns gesagt worden. Offensichtlich waren sie zurückgekehrt - wenigstens für eine kurze Weile, und um der Sibylle Informationen zu geben.

Die Sibylle wandte sich mir zu, und ihr Kopf kam, es war unglaublich, durch den ganzen gaserfüllten Raum, bis ganz nah an meinen heran. Sie lächelte, doch sie hatte mich ertappt. Jetzt konnte ich das Gespräch zwischen ihr und den Unsterblichen hören; sie war so gnädig, mich mithören zu lassen.

»... nur eine von vielen«, sagte der größere der beiden Unsterblichen. »Andere werden folgen, aber erst geraume Zeit spater. Nach einem goldenen Zeitalter kommt nun das Dunkel der Unwissenheit.«   - Philip K. Dick, Das Auge der Sibylle. In: PKD, Der Fall Rautavaara. Sämtliche SF-Geschichten Band 10. Zürich 2000

 

Wahrsagerin Orakel, weibliches

 

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