Shiva  »Liebst du Indien?« fragt mich ein Italiener, ein Mensch, der zum Freund geboren und sanft ist von asiatischer Sanftmut. Aber ich kann nicht antworten. In Indien habe ich eine Angst kennengelernt, die in unmittelbarer Nähe des Todes ist; ich habe die mühelose und unmögliche Versuchung kennengelernt; ich habe weit offene Augen ohne Pupillen, die Götter auf einer Schaukel gesehen, ich habe Mißgeburten und Aussätzige gesehen, das Depot der Seelen gestreift. Alles schwankt zwischen Wahnsinn und Offenbarung. Alles ist leicht und unantastbar. Ich bin unzählige Male einer Spur Shivas, des vielfältigen Gottes, des Schöpfers und des Zerstörers, begegnet, der seit Jahrtausenden in sein magisches Rad eingeschlossen tanzt. »Ich bin arm« heißt es in einem uralten Gedicht für Shiva, »meine Beine sind seine Säulen, mein Haupt ist eine goldene Kuppel. Die fest stehenden, und unbewegten Dinge stürzen ein, was rastlos ist, bleibt unversehrt.«   - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

Shiva (2)  Vladimír war ein Mann, der genau wußte, daß er durch das Funkeln des Diamantenauges existierte, doch er wußte auch von seinem Bedürfnis, zu dem er sich bekannte, und dabei machte es ihn fertig, daß er sich zeitweise bis an den Rand der Verzweiflung treiben mußte, um dann desto leichter wie der Gott Schiwa zu sein, der Gott des Verderbens, der das Leben durch Vernichtung erneuerte, um später, wenn er weder aus noch ein wußte, seine Persönlichkeit niederzumähen, um wieder von vorn anfangen zu können. Um zu dem zu werden, der er zu sein wünschte, um sich selbst unbewerten zu können, mußte Vladimír alle vierzehn psychischen Phänomene durchwandern, von denen Moody schreibt, denn Vladimír kannte seinen Tunnel, der von einem Kreis brüllender Lichtorgeln eingeschlossen war,-das Hineingesaugtwerden in einen engen Kamm, die Gefühle der schwindelnden Rotation und Vibration und des Absturzes, denn Vladimir hatte den Lazaruskomplex bei der Arbeit erlebt, wo er mit dem Material hatte sterben müssen, damit eine brauchbare Form entstand. An sich selbst hatte er das Lazarussyndrom erfahren, wenn der Trigeminusnerv ihm als doppeltes maniakalisches Delta in der Schläfe tickte, wenn ihm die tyrannischen Nägel des Barometerdrucks durch das Gehirn bis in den Mund drangen, wenn ihn das Unverständnis für seine Arbeit als Künstler in einem großen hysterischen Anfall hintenüberwarf, wenn ihm seine Depressionen und mächtigen Euphorien das Gesicht zu einer Grimasse aus Weinen und unmenschlichem Gebrüll verformten. Und in solchen Augenblicken moralischer Gegensätze, da er außerstande war, auch nur für einen Moment schöpferische und schaffende Ruhe und Stille zu finden, um den Preis seiner unterdrückten Impulse und verdrängten Wünsche, zog Vladimir seine Schleife fester, um sich auszuruhen, um in den Zustand der Unwissenheit zu gelangen und dann zu versuchen, sich selbst, die Welt, die eigene Arbeit aus einem neuen Blickwinkel, anders zu sehen. So unternahm Vladimir fast alle wissenschaftlichen Versuche der Lebenserneuerung durch Vernichtung an sich selbst, Freunde von ihm sagen, Vladimir habe über vierzigmal das Lazarussyndrom erlebt, habe es aber fertiggebracht, sich bis zum letzten Bewußtseinsaugenblick selber als dritte Person zu sehen und dabei den Schritten zu lauschen, die ihm vierzigmal die Rettung bbrachten.  - Bohumil Hrabal, Ein Dandy im Schlosseranzug. In: B. H., Leben ohne Smoking. Frankfurt am Main 1993

Shiva (3)  

Der vierarmige tanzende Shiva

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