Serienuntersuchung   -  Am Ort des Verbrechens kann man häufig feststellen, welche Tatsache mit ihm in Verbindung steht und welche nicht. So haben zum Beispiel die Formen von Blutflecken in der Nähe der Leiche eines Ermordeten eine Verbindung zu dem Verbrechen und können viel über seinen Verlauf aussagen. Hingegen kann man die Tatsache, ob am Mordtag Kumuluswolken oder Zirrostraten über dem Haus dahinzogen, oder aber, ob die Telephondrähte vor dem Haus aus Aluminium oder Kupfer waren, als unwesentlich außer acht lassen. Was jedoch unsere Serie anbelangt, so ist es a priori unmöglich, überhaupt festzustellen, welche Begleitumstände in Beziehung zu dem Verbrechen stehen und welche nicht.

- Wenn nur ein einziger Fall vorgekommen wäre - fuhr Sciss fort - wären wir ratlos. Glücklicherweise haben sich mehrere ereignet. Es ist klar, daß die Quantität der Gegenstände und Erscheinungen, die sich zur kritischen Zeit in der Nähe des Ortes der Ereignisse befanden, beziehungsweise, die vor sich gingen, praktisch unendlich ist. Da wir jedoch eine Serie vor uns haben, müssen wir uns hauptsächlich auf die Fakten stützen, die allen oder fast allen Fällen gemeinsam waren. Wir werden folglich nach der Methode des statistischen Vergleichs der Phänomene vorgehen. Diese Methode ist bisher so gut wie nie bei einer Untersuchung angewendet worden, und ich bin froh, sie Ihnen heute vorstellen zu können - zusammen mit ihren ersten Ergebnissen...

Doktor Sciss, der bisher hinter seinem Sessel wie hinter einem Katheder gestanden hatte, machte auf seinen langen Beinen ein paar Schritte in Richtung auf die Tür, drehte sich unverhofft um, legte den Kopf schief und fuhr in seinem Vortrag fort, wobei er seinen Blick ins Leere richtete, ohne die vor ihm Sitzenden anzusehen:

- Also, erstens: Es gab vor dem eigentlichen Phänomen ein Stadium, das wir einmal mit dem Terminus »Phase der Ankündigung« bezeichnen wollen. Die Leichen änderten ihre Position. Die eine hat man auf den Bauch gedreht, die andere auf die Seite, die dritte wiederum fand man auf dem Boden neben dem Sarg.

Zweitens: Alle Leichen, die verschwunden sind, waren, mit einer Ausnahme, die Leichen von Männern in den besten Jahren.

Drittens: Jedesmal hat man sich, mit Ausnahme wiederum des ersten Falles, um eine Art von Bekleidung für die Toten gekümmert. Zweimal handelte es sich um einen Anzug, einmal aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Arztkittel und weiße Hosen, ein weiteres Mal - um einen schwarzen Vorhang aus Leinwand.

Viertens: Es handelte sich immer um Leichen, an denen keine Autopsie vorgenommen worden war, die gut erhalten waren und im Rahmen des Möglichen nicht beschädigt. Auch das ist bemerkenswert.

Fünftens: Alle Fälle, erneut mit Ausnahme des ersten, spielten sich in der Leichenhalle eines kleinen Ortes ab, die  in der Regel ziemlich leicht zugänglich ist. Nur das Verschwinden der Leiche aus dem Prosektorium läßt sich hiermit nicht in Einklang bringen, - Sciss wandte sich an den Inspektor:

— Ich brauche einen starken Scheinwerfer. Kann ich etwas Derartiges bekommen?

Der Inspektor schaltete das Mikrophon ein und sagte leise ein paar Worte. Darauf trat Schweigen ein, und Sciss holte aus seiner Tasche, die geräumig wie ein Blasebalg war, langsam einen mehrfach gefalteten Bogen Pauspapier hervor, der mit farbigen Zeichnungen bedeckt war. Gregory betrachtete Sciss mit einer Mischung aus Unlust und Neugier. Das hochnäsige Verhalten, das der Wissenschaftler ihnen gegenüber an den Tag legte, reizte ihn. Er drückte seine Kippe aus und bemühte sich vergeblich zu erraten, was der Bogen Pauspapier enthielt, der in Sciss' ungeschickten Händen raschelte.

Sciss legte den Bogen auf den Schreibtisch, nicht ohne ihn dabei an der Seite einzureißen, strich ihn vor der Nase des Inspektors glatt, als ob er diesen gar nicht wahrnähme, trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter, wobei er gleichzeitig mit den Fingern der einen Hand das Gelenk der anderen umfaßte, so, als wolle er seinen eigenen Pulsschlag zählen.
Die Tür ging auf, ein Konstabler trat mit einem Scheinwerfer auf einem hohen Stativ ein und schloß diesen an eine Steckdose an. Sciss schaltete ihn ein, wartete einen Augenblick, bis sich die Tür hinter dem Polizisten geschlossen hatte, und richtete den starken Lichtstrahl auf eine große Karte von England. Dann deckte er die Karte mit einem Blatt Kohlepapier ab. Da sie durch das milchige Papier nicht hindurchschimmerte, machte er sich daran, den Scheinwerfer zu verrücken. Er nahm auch die Karte von der Wand (dabei geriet er auf dem Stuhl gefährlich ins Wanken) und hängte sie am Garderobenständer auf, den er von der Ecke des Zimmers in die Mitte des Raums zeme. Den Scheinwerfer stellte er so dahinter auf, daß sein Strahl jetzt durch die Karte und das sie bedeckende Papier hindurchschien, das er in seinen weit ausgebreiteten Händen hielt. Diese Hakung - mit ausgestreckten und erhobenen Armen - war überaus unbequem.
Sciss verrückte den Ständer noch einmal mit dem Fuß, dann kam er zur Ruhe. Während er das Pauspapier am oberen Rand festhielt, begann er zu sprechen und drehte dabei den Kopf zur Seite:

- Bitte achten Sie auf die Umgebung, in der sich unsere Vorfälle abspielten.
Die Stimme des Doktors klang noch höher als vorher, vielleicht wegen der mühsam verborgenen Anstrengung.
-  Der erste Fall des Verschwindens von Leichen ereignete sich in Treakhill am sechzehnten Januar. Bitte merken Sie sich die Orte und Daten. Der zweite - am dreiund-zwanzigsten Januar - in Spittoon. Der dritte in Lovering am zweiten Februar. Der vierte - in Bromley - am zwölften Februar. Am achten März in Lewes geschah der letzte Vorfall. Wenn wir als Ausgangspunkt den Ort des ersten Vorfalls ansehen und um ihn herum Kreise mit zunehmendem Radius ziehen, dann erhalten wir die Zeichnung auf meinem Blatt Pauspapier.

Ein Lichtfleck grenzte deutlich den an den Kanal grenzenden Teil Südenglands ab. Fünf konzentrische Kreise umfaßten fünf Ortschaften, die durch rote Kreuze bezeichnet waren. Das erste war im Zentrum zu sehen, die nächsten immer weiter zur Peripherie des größten Kreises hin. - Stanislaw Lem, Die Untersuchung. Frankfurt am Main 1978

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