Selbstfindung   »Tu jetzt, was ich dir sage. Geh in deine Finger hinein.«

»Ich kann da nicht hineingehn. Es sind Höhlen, noch dazu bewohnte.«

»Wer bewohnt sie?«

»Ich sehe etwas Schwärzliches und leuchtende Augen; Drachen würde ich sagen.«

»Merk es dir. Und nun steig in dein Bein hinab. Links.«

»Links bin ich ein einziges Reptiliengewühl. Ich sehe sie nicht, ich spüre, wie sie kriechen. Ich habe keine Angst vor ihnen.«

»Laß sein; schau jetzt nach rechts.«

»Rechts spüre ich gar nichts.«

»Sieh genauer hin. Faß es an.«

»Ich erkenne es nicht. Es ist nichts Lebendiges.«

»Das ist es auch nicht.«

»Es ist eine Stadt; genauer gesagt, ein Amtsbezirk.«

»Richtig. Und jetzt geh in die Stadt hinein.«

»Sie sieht verlassen aus. Hier ist eine Kaserne; und dort eine Bibliothek; aber die Bücher haben leere Seiten. Sie ähnelt meiner Ichstadt, aber nicht genau.«

»Siehst du die Hexenscheiterhaufen nicht?«

»Nein; doch da - jetzt sehe ich die Hexe! Sie ist es ..., die einzige Hexe, die sich nicht verwandelt hat, als das Geschehnis geschah.«

»Das ist keine Hexe. Sieh sie dir genau an.«

»Ist es die Puppe? Wahrscheinlich. Aber war die Puppe denn nicht das geflügelte Reptil?«

»Du willst dich doch hoffentlich nicht auf das Prinzip des Widerspruchs berufen - wenigstens nicht hier!«

»Jetzt gibt es niemanden mehr, der die Hexe verbrennen könnte. Die Flammen bin ich selbst. Ich brenne und habe keine Türen, um diese Fremden, die mich bewohnen, hinauszulassen.«

»Mach keine Geschichten, mein Lieber. Wirf lieber noch einen Blick in deinen Kopf. Aber gib acht beim Durchgang durch die Kehle

»Meine Kehle ist glatt und glitschig; ich gehe auf Kröten; ich zerquetsche sie.«

»Du kannst es dir nicht leisten, in dein eigenes Zentrum zu stürzen; du wärest verloren, aber nicht vollbracht. Geh weiter.«

»Ich bin jetzt in meinem Kopf

»Und was siehst du?«

»Nichts, was in diesem Augenblick dort wäre. Ich sehe etwas, das ich als Projekt bezeichnen könnte. Ich weiß nicht, was es ist - ein Palast, ein Sarkophag, ein Schlachtplan, ein Friedhof, ein Altar, der riesige Flügel eines unbekannten Tiers oder die Morphologie einer inexistenten und unaussprechlichen Sprache.«

»Aber es ist ein Projekt.«

»Eigentlich könnte ich ebensogut sagen, daß gar nichts da ist.«

»Du bestehst also nicht nur auf dem Prinzip des Nicht-Widerspruchs, sondern gibst auch noch vor, die Zeit als Kategorie des Existenten zu benützen. Das Nichtexistieren ist ein Akzidens des Existenten. Das, was hier Zukunft ist, ist von rechts nach links gelesen bereits geschehen.«

»Das Nichts, das ich jetzt sehe, ist irgendwie phosphoreszierend.«

»Du bist also eine Höhle mit Drachen und Kröten und einer Stadt und wirst von einer Hexe und einer Fledermaus bewohnt nebst einem lichtbestückten Nichts. Ansonsten bist du hohl wie der Schädel des Orpheus, nämlich mein eigener Schädel, wenn ich einen hätte. Und jetzt komm raus.«   - (hoelle)

Selbstfindung (2)

Selbstfindung (3)  Nietzsche erzählt die erfundene, aber konsistente Geschichte eines Menschen, der sich auf diese Weise zu Tode bekennt: Jemand hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motivs, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren we die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich aufzusprechen. Der potentielle Verfasser von Konfessionen erregt zuerst Anstoß, dann Verdacht, wird von der Gesellschaft geächtet und schließlich von der Justiz erfaßt, die ihn den unausweichlichen Weg gehen läßt. Womit man heute bei dieser Kurzgeschichte nicht recht zufrieden sein kann, ist die Charakteristik der Deviation, die am Anfang steht. Da hat jemand eine üble Angewohnheit, einen Mangel an Schweigsamkeit, einen unverantwortlichen Hang zu etwas, was ihm zum Verhängnis wird: zu sehen, was Keiner sehen will — sich selber. . .

Daß dies mit dem Wortschatz der Moral dargestellt wird - und zwar nicht nur aus dem Aspekt der anderen, die vorgeben, >Ehrlichkehx zu respektieren und zu honorieren -, ist die philosophische Schwäche dieses Stückchens. Denn, womit der anonyme Held der Geschichte geschlagen ist, ist nicht seine üble Angewohnheit und nicht sein Mangel an Diskretion, sondern eine Undichtigkeit im Schutzschirm seines Undurchsichtigseins: Er ist es nicht für sich selbst. Der Mensch bedarf dieser Abschirmung seiner letzten Blöße nicht nur vor den anderen, auf deren Diskretion er nicht rechnen darf, sondern auch und noch mehr vor sich selbst. Lust zu sagen, was man sieht, ist eine der stärksten Verführungen, obwohl die Erwartung, andere würden so interessant finden, was man selbst interessant zu finden Veranlassung genug hat, in der Überzahl der Fälle gewiß enttäuscht wurde. - (blum)

Selbstfindung (4)   - ja, und wenn man dann nichts findet bei der Selbstfindung, jedenfalls nichts Präsentables, geht die Selbstfindung fließend in die Selbstdarstellung über. - (cel)

Selbstfindung (5)  Heute wird übrigens die Wettbewerbsideologie von einer »Philosophie« der Entfaltung der Persönlichkeit in den Hintergrund gedrängt. In der durchgehend integrierten Gesellschaft rivalisieren die Individuen nicht mehr um den Besitz der Güter, sondern trachten über einen planmäßigen Verbrauch ihre Personalität zu bilden. Der Schwerpunkt liegt nicht mehr auf einem »Ausleseprozeß der Konkurrenz«, sondern auf der Personalisierung aller Mitbürger. Demgemäß stellt sich die Werbung von der Verfolgung unmittelbarer kommerzieller Interessen auf eine Theorie des Konsumverhaltens um, auf eine Theorie der Globalstruktur der Gesellschaft. Dieser Sinneswandel ist von amerikanischen Werbefachleuten (Dichter, Martineau und anderen) ausgegangen und bedient sich einiger einfacher Argumente: 1. die Konsumgesellschaft bietet der Einzelperson zum erstenmal in der Geschichte die Möglichkeit, sich zu befreien und zu entfalten; 2. das System des Verbrauches stellt über das einfache und unmittelbare »Verzehren« hinaus individuell wie kollektiv eine eigene Sprache dar, eine neue Kultur. Damit wird dem »Nihilismus« des Massenkonsums ein »neuer Humanismus« der Konsumgesellschaft entgegengestellt.  - (baud)

Selbstfindung (6)  Ashley/Jade erkannte auf einer jener damals so verbreiteten Selbstentdeckungsreisen, in den von intensivstem Licht durchstrahlten Komplexitäten irgendeines mittlerweile halb vergessenen Acidtrips, etwas über sich selbst, was bis dahin noch niemand erkannt hatte. Irgendwie war dafür von entscheidender Bedeutung, wie Doc schon irgendwie vermutet hatte, der Cunnilingus. Wohin sie auch schaute, bot die damalige Zeit, wie sie zu bemerken nicht umhin konnte, praktischerweise nicht nur willige Mädchen, sondern auch herrlich passive langhaarige Jungen, die eifrig darauf bedacht waren, ihrer Möse die mündliche Aufmerksamkeit zu schenken, die sie schon immer verdient hatte.

«Da fällt mir ein, wie geht's dir denn da unten, Denis?»  - Thomas Pynchon, Natürliche Mängel. Reinbek bei Hamburg 2010

 

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