Mutter Dione: »Was Scham ? Mein ist doch, was da geschieht!«
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- Publius Ovidius Naso, Ars Amatoria. Frankfurt
am Main (it 164, zuerst 1 v.u.Z)
Selbsterkenntnis (2) GUILLAUME DE CABESTAN Hattet Ihr bei Eurer Krankheit irgendwelche angenehmen Phasen von Zurechnungsfähigkeit?
ALBERT FRIEDRICH VON BRANDENBURG Ja.
GUILLAUME DE CABESTAN Um so schlimmer; ich dagegen war noch unglücklicher: ich kam wieder völlig zu Verstand.
ALBERT FRIEDRICH VON BRANDENBURG Ich hätte nie geglaubt, daß das ein Unglück sei.
GUILLAUME DE CABESTAN Wenn man verrückt ist, muß man eben von Kopf bis Fuß verrückt sein und die Narrheit auch nicht plötzlich wieder an den Nagel hängen. Die wechselnden Schübe von Vernunft und Tollheit und die völlige Wiederkehr der Vernunft finden sich lediglich bei jenen kleinen Narren, die es nur zufällig sind und deren Zahl durchaus nicht groß ist. Schaut Euch dagegen diejenigen an, die die Natur jederzeit und in ihrem alltäglichen Lauf hervorbringt und von denen die Welt geradezu wimmelt; sie sind immer gleich närrisch und kommen nie zur Vernunft.
ALBERT FRIEDRICH VON BRANDENBURG Was mich betrifft, so hätte ich gedacht, es sei immer noch das beste, so wenig wie möglich verrückt zu sein.
GUILLAUME DE CABESTAN Ach! Ihr wißt also gar
nicht, wozu die Narrheit gut ist? Sie dient dazu, einen daran zu hindern, sich
selbst zu erkennen, denn der eigene Anblick ist gar
zu trostlos.
- Fontenelle, Totengespräche. Frankfurt am Main 1991 (zuerst
1683)
Selbsterkenntnis (3) Die erste Dame, die sprach, trug eine sehr schicke gestreifte Bluse und Weste und hatte kurzgeschorenes Haar wie ein Mann. Ich fand später heraus, daß sie Claude La-Checherelle hieß und eine französische Marquise war. Dies beeindruckte mich sehr, denn ich war in meinem Leben nur selten mit Aristokraten zusammengekommen. »Sollen wir Selbsterkenntnis versuchen, während wir ›Schweinchen auf der Leiter‹ spielen?« fragte sie.
»Wir erkennen uns selbst zu allen Stunden und bei allen Beschäftigungen oder
Vergnügungen«, antwortete der Doktor. - (
hoer
)
Selbsterkenntnis (4)
Selbsterkenntnis (5) Auf der Ausbuchtung eines Nußbaumstammes befand sich eine muschelförmige Höhlung, die Wunde alter Axthiebe, und dort hatte Cosimo einen seiner Unterschlüpfe. Das Fell eines Wildschweins war darin ausgebreitet, und darüber hingen eine Korbflasche, ein paar Werkzeuge, eine Trinkschale.
Viola warf sich auf das Wildschweinfell. »Hast du schon andere Frauen hierhergebracht?«
Er zögerte mit der Antwort. Und Viola: »Wenn du nicht andere mitgebracht hast, so bist du kein echter Mann!«
»Ja... ein paar...«
Er erhielt eine Ohrfeige. »So also hast du auf mich gewartet?«
Cosimo strich sich mit der Hand über die rote Backe und wußte nicht, was er sagen sollte; sie aber schien schon wieder gut gelaunt zu sein. »Und wie waren sie? Sag mir: Wie waren sie?«
»Nicht so wie du, Viola, nicht wie du...«
»Was weißt du denn, wie ich bin, sag, was weißt du denn?«
Sie war ganz sanft geworden, und Cosimo kam durch diese plötzlichen Schwankungen aus dem Staunen nicht heraus. Er näherte sich ihr. Viola war Gold und Honig.
»Sag...«
»Sag...«
Sie erkannten sich. Er erkannte sie und sich selbst, denn in Wahrheit hatte
er sich noch nie gekannt. Und sie erkannte ihn und sich selbst, denn obgleich
sie sich schon immer gekannt hatte, war es ihr doch noch nie vergönnt gewesen,
sich auf solche Weise zu erkennen.
- Italo Calvino, Der Baron auf den Bäumen.
München 1984 (zuerst 1957)
Selbsterkenntnis (6) Du kannst eben
nicht nur nicht erkennen, daß das Akzeptieren deine Kraft übersteigt, sondern
auch nicht, daß du die Frage, wenn du sie akzeptieren könntest, auch zu entziffern
wüßtest, denn sie hätte in jedem Fall den Sinn, den du ihr gäbest -keinen anderen,
in keinem Fall - und dieser Sinn wäre ein Akzeptieren durch dich, aber auch
ein Dich-Erkennen in jener Klage als nicht weniger klagend als die Klage selbst
- wohl bemerkt: ich sagte nicht wer oder was sich beklagt. Doch die wechselnde
Mischung aus Flehen, Klagen und Drohen scheint dieser Stimme eine beunruhigende
Dichte zu verleihen, so als begänne ein Monstrum
gerade, sich selbst als solches zu erkennen und sich über dieses Monstrum-Sein
zu befragen und um Aufklärung zu flehen über seine ausgetüftelte Mißgestalt,
und drohte, vielleicht zu töten oder sich selbst zu töten, wenn es irgendeine
Kenntnis vom Empfangen oder Bringen des Todes besäße. Aber wenn du die Aufforderung
ablehntest, dich - auch nur zum Schein, auch nur als Schmierenschauspieler -
der Stille als Alternative anzubieten und folglich so tätest, oder nicht so
tätest - und das wäre in keiner Weise verschieden - als erteiltest du eine Antwort
- nicht etwa eine sinnvolle, denn die wäre schon als solche unverständlich,
sondern eine fragende, flehende und drohende - wenn du dich mit höflicher Anmut
und überlegter Feigheit entferntest - gäbe es dann einen anderen Ausweg als
die polyglotte Anmut des Wahnsinns? Deshalb
hör weiterhin zu, auch wenn man behaupten kann, daß von diesem Augenblick an
dein Zuhören keine wenn auch noch so abstrakte Bedingung mehr für die, sagen
wir, historische Existenz der Stimmen darstellt, die diesen Ort bewohnen. Es
ist natürlich klar, daß die Stimme des Wahnsinns keinen richtigen Gesprächspartner
hat, ja daß ihre Rede - wenn man es überhaupt so bezeichnen kann - gerade dem
Fehlen eines Gegenübers entspringt. Du hörst jetzt nicht mehr zu, sondern registrierst
nur die Unordnung, die in dieser Rede herrscht; aber daß es eine Rede sei, laßt
sich in Wirklichkeit allein dem Wechseln der affektiv musikalischen Modi der
Stimme entnehmen. Du wirst bemerken, wie die Frage sich allmählich zu scharfen
und wütenden Dissonanzen emporreckt, denn der Wahnsinn liegt nicht so sehr im
Fragen selbst als darin, die Frage an einen verschwiegenen Gesprächspartner
zu richten, der jene Art der Verschwiegenheit übt, die ein Vorrecht des Nichts
zu sein scheint; aber in Wahheit - wenn mir gestattet ist, mich in einer lästerlichen
aber löblichen Glosse zu verbreiten - kann die Verschwiegenheit,
auch wenn sie absolut ist, ein Beweis für das Nichts
gar nicht sein, denn die Verschwiegenheit des Nichts hat eine ihr eigene sanfte
Beharrlichkeit, die man unmöglich als irritierend betrachten kann, und das ist
für den Wahnsinn verständlich; und es ist gerade diese leichte aber offenkundige
Dyskrasie zwischen der Verschwiegenheit des Nichts und der Verschwiegenheit
dessen, was das Nichts sein könnte aber keineswegs sein muß, die die unerforsch-liche
Unordnung des Wahnsinns auslöst. - Giorgio Manganelli, Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
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