elbstdenker Trotz
meiner großen Armut an Kenntnissen (worunter ich nicht alles verstehe, was ich
weiß, sondern nur was ich auch zweckmäßig zusammengedacht habe), finde ich mich
oft nicht wenig durch den Gedanken beruhigt, daß ich das durch tausendfaches
Interesse gespaltene und tausendfach sich selbst betrügende menschliche Herz
zu dem Grad habe kennen lernen, daß ich an einer Sache zweifeln kann, und wenn
sie in tausend Büchern bejaht stünde, tausend Jahre durch geglaubt worden, und
als untrüglich von schönen und häßlichen Lippen verkündigt worden wäre. Ich
habe mir zur unverbrüchlichen Regel gemacht, aus Respekt
schlechterdings nichts zu glauben, demohngeachtet aber, vor wie nach, fortzufahren,
aus Respekt am gehörigen Ort oft zu tun und zu sagen,
was ich nicht glaube und nicht glauben kann. Der Mensch ist ein solches Wunder
von Seltsamkeit, daß ich überzeugt bin, es gibt Leute, die oft meinen, sie glaubten
etwas und glaubens doch nicht, die sich selbst belügen, ohne es zu wissen, und
Dinge einem andern nachzumeinen und nachzufühlen glauben, die sie ihm bloß nachsprechen.
Daß das wahr ist, davon, sage ich, bin ich sicher überzeugt, denn ich habe mich
ehemals selbst darüber ertappt. Dieses hat mich sehr mißtrauisch gegen mich
selbst und noch mehr gegen die Versicherungen anderer gemacht, deren Interesse,
Gattung von Eigenliebe und Verstandeskräfte ich nicht kenne, und von denen ich
also nicht weiß, ob sie ein Votum haben, oder ob sie bloß Herolde sind. -
Lichtenberg, Über die Macht der Liebe
Selbstdenker (2) Das charakteristische Merkmal der Geister ersten Ranges ist die Unmittelbarkeit aller ihrer Urtheile. Alles was sie vorbringen ist Resultat ihres selbsteigenen Denkens und kündigt sich, schon durch den Vortrag, überall als solches an. Sie haben sonach, gleich den Fürsten, eine Reichsunmittelbarkeit, im Reiche der Geister: die Uebrigen sind alle mediatisirt [mittelbar geworden] ; welches schon an ihrem Stil, der kein eigenes Gepräge hat, zu ersehn ist.
Jeder wahre Selbstdenker also gleicht insofern einem Monarchen: er ist unmittelbar
und erkennt niemanden über sich. Seine Urtheile, wie die Beschlüsse eines Monarchen,
entspringen aus seiner eigenen Machtvollkommenheit und gehn unmittelbar von
ihm selbst aus. Denn, so wenig wie der Monarch Befehle, nimmt er Auktoritäten
an, sondern läßt nichts gelten, als was er selbst bestätigt hat. - Das Vulgus
der Köpfe hingegen, befangen in allerlei geltenden Meinungen, Auktoritäten und
Vorurtheilen, gleicht dem Volke, welches dem Gesetze und Befehle schweigend
gehorcht. -
(
schop
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Selbstdenker
(3)
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