Sekte, häretische   Das Originalmanuskript kann man in der Universitätsbibliothek von Leiden eingehen; sein Text ist lateinisch, aber der eine oder andere Gräzismus berechtigt zu der Annahme, daß es aus dem Griechischen übersetzt wurde. Leisegang zufolge datiert es aus dem vierten Jahrhundert nach Christus. Gibbon erwähnt es beiläufig in einer Anmerkung zum fünfzehnten Kapitel seines Dedine and Fall. Der anonyme Verfasser berichtet:

»... Die Sekte war niemals zahlreich, und heute hat sie nur noch wenige Anhänger. Von Eisen und Feuer dezimiert, schlafen sie am Wegesrand oder in den Ruinen, die der Krieg übriggelassen hat, da es ihnen ja untersagt ist, sich Wohnstätten zu errichten. Für gewöhnlich gehen sie unbekleidet einher. Die Tatsachen, die meine Feder verzeichnet, sind wohlbekannt; mein gegenwärtiger Vorsatz ist, schriftlich festzuhalten, was ich über ihre Lehre und ihre Gewohnheiten in Erfahrung bringen konnte. Ich habe mich lange mit ihren Lehrmeistern unterhalten, und es ist mir nicht gelungen, sie zum Glauben des Herrn zu bekehren.

Was meine Aufmerksamkeit als erstes auf sich zog, war die Unterschiedlichkeit ihrer Ansichten über die Toten. Die Ungebildetsten meinen, daß ihre Bestattung von den Geistern der aus dem Leben Geschiedenen besorgt wird; andere, die sich an den Buchstaben halten, erklären, daß Jesu Ermahnung Lasset die Toten ihre Toten begraben eine Verurteilung der pompösen Eitelkeit unserer Bestattungsrituale sei.

Der Rat, alle Habe zu verkaufen und sie den Armen zu geben, wird von allen streng befolgt; die ersten Empfänger geben sie an andere weiter und die wiederum an andere. Dies ist eine ausreichende Erklärung für ihre Armut und Nacktheit, die sie dem paradiesischen Zustand nahebringen. Inbrünstig wiederholen sie die Worte: Sehet die Raben: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie haben nicht Scheuer noch Speicher; und Gott nähret sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Der Text ächtet die Vorsorge: So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute stehet und morgen in den Ofen geworfen wird; sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen ? Darum sollt ihr euch nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Noch sollt ihr in ängstlicher Sorge sein.

Das Gebot Wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen Ist eine unzweideutige Aufforderung zur Keuschheit. Trotzdem lehren viele Anhänger der Sekte, daß alle die Ehe gebrochen hätten, da es keinen Mann unter der Sonne gibt, der nicht auch eine Frau angesehen hätte, sie zu begehren. Und da der Wunsch nicht weniger sündig ist als die Tat, können sich die Gerechten gefahrlos der wüstesten Unzucht hingeben.  - Jorge Luis Borges, Die Sekte der Dreißig. In: J. L. B., Spiegel und Maske. Frankfurt am Main 2000

Sekte Häresie

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