eidenwurm  Der Totenkopf gab da das Zeichen zum Aufbruch; der kleine Zug setzte sich in Bewegung und folgte langsamen Schrittes dem Pfade, welcher zu blühender roter Heide führte. Die Prozessionsraupen beschlossen den Zug. Als man einige Schritte von dem Maulbeerbaum entfernt war, wo die trauernden Brüder und Schwestern des verstorbenen Seidenwurmes zurückgeblieben, wurde der Grabgesang angestimmt, und wenn derselbe bisweilen schwieg, hörte man deutlich Seufzer und selbst Schluchzen. In dem Heidefelde bemerkte man nicht weit von einigen Grabhügeln, die erst kürzlich aufgeworfen worden waren, wie man an der frischen Erde erkannte, und unter einigen offenen Gräbern, welche man bereitzuhalten schien, ein kleines Grab.

Zu diesem wendete sich der Zug.

Der Gesang schwieg, das Schluchzen hörte auf, selbst das Seufzen, denn in jedem großen Schmerz gibt es einen Augenblick tiefer Abspannung, der ihn völlig stumm macht.

Als aber die Insekten, welche den Leichnam trugen, denselben in das Grab niedergelegt hatten und man sah, daß ihn nichts mehr von der nackten gierigen Erde trenne, brach das Weinen und Schluchzen von neuem aus und der Schmerz kannte keine Grenzen mehr. Da trat ein völlig schwarz gekleidetes Insekt an das noch offene Grab und sprach:

»Warum weinet Ihr? Und wie lange werden die, auf denen noch die Last des Lebens ruht, diejenigen beklagen, welche der Tod erlöst hat? Aber weint, denn der, welcher hier ruht, hat von Euerem Schmerz nichts zu fürchten und Eure Tränen werden ihn nicht wiedererwecken. Wer möchte nach dem Tode wieder in das Leben zurückkehren?« Man hörte noch immer Schluchzen, denn niemand war getröstet.

»Brüder«, sprach ein anderer Redner, der vortrat, »die Seidenwürmer verdienen Tränen, wenn sie geboren werden, nicht wenn sie sterben. Unser Bruder ist tot, freut Euch, denn er hat von dem Leben nur die Blumen und Blätter genossen, und als er die Erde verließ, auch alle Schmerzen verlassen und nur das Elend eingebüßt. Ich spreche die Wahrheit aus; Ihr seid arme Seidenwürmer wie ich, warum sollte ich Euch schmeicheln? Uns Arme sollte der Tod nicht erschrecken.«

Aber sie weinten noch immer, und einer der Weinenden nahm das Wort und sprach:

»Wir wissen, daß alles, was beginnt, ein Ende hat und sterben muß; wir wissen, daß Mut dazu gehört, seinen Lebensunterhalt blattweise zu verdienen; wir wissen, welche Geduld und Selbstverleugnung dazu gehört, ehe ein Maulbeerblatt zu einem seidenen Kleide wird; wir wissen, wie beschwerlich unsere Arbeiten sind, wir wissen auch, daß sterben heißt: aufhören zu spinnen, da der Tod nur das andere Ende des Fadens ist, welcher beim Beginn des Lebens anfängt; wir wissen, daß man sterben sieht, wohin man das Auge wendet, und daß unser Bruder, der gestorben ist, nur einem gemeinsamen Schicksal erlegen ist - aber wir liebten unsern Bruder, und nichts wird uns über seinen Verlust trösten.« Und alle riefen mit ihm aus: »Wir liebten unsern Bruder, und nichts wird uns über seinen Verlust trösten.«

Ein anderer erhob sich und sprach:

»Ich habe wie Ihr unsern verstorbenen Bruder beweint, und doch freut sich mein Herz jedesmal, wenn ich einen Seidenwurm sterben sehe. Gehe in die andere Welt ein, sage ich zu ihm, dort wird es Dir wohler sein als in dieser, wo es nur traurig ist. Dort werden sich für Dich die Pforten öffnen, die sich für die Kleinen und Großen erschließen; dort wirst Du die wiederfinden, welche Du verloren hast, wirst sie wiederfinden unter Blumen, die nicht welken, und unter immergrünen Maulbeerbäumen an dem Ufer von neun Quellen, die nie versiegen...«   - (grand)

 

Wurm

 

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