Seelentier   Es war seine fünfte oder sechste Predigt. Die Bauern dort, lauter ärmliche, abgerackerte Leute, von der Wochenarbeit totmüde, hätten die Gewohnheit gehabt, in der Kirche zu schlafen. Er sei vielleicht zu nachsichtig gewesen. Auch ging es anfangs noch, als seine Stimme und Vortragsweise den Leuten neu war. Aber später, als an einem Sonntag die gesammte Zuhörerschaft in ihren blechernen Rockknöpfen und bebänderten Hauben, der Organist mitinbegriffen, räckelnd in den ungestrichenen Kirchenstühlen mit offenen Mäulern gelegen und geschlafen habe, sei das Entsetzliche passirt. Ob sie denn davon nichts wußten? Hinten von der Orgel her habe sich's herausgewälzt; schürfend und tappend; ein Etwas, ein Mords-Ding, ein grandioses Thier; und sich langsam in das Schiff der Kirche hineingelegt. Ob es das Thier aus dem Jeremias gewesen sei ? - Wie ? - Nein, damit stimmte es nicht. - Oder aus Hesekiel? - Er wisse nichts darüber. - Es sei wie auf Tappen gegangen. Und auf ihn zu. Wie ein Wachsbild habe er es angestarrt. Hilflos, was zu thun. Er habe in der fürchterlichen Stille immer weiter gepredigt. Und dabei grimmassirt und gefratzt, um das Thier zu verscheuchen. Geschmatzt und gegaggert habe er: ›Huit!‹ rief ich und ›Pischperisch pisch!‹ Es half nichts. Wie ein langmächtiger Leviathan sei es näher gekrochen. Schon habe er seinen vorströmenden Hauch im Gesicht gefühlt, der wie Buchbinderkleister gerochen. In der entsetzlichen Angst habe er ihm zwei Kapitel aus der Offenbarung Johannes in den Rachen geschrieen. Sie gehörten gar nicht zur Predigt. Es sollte nur eine Beschwörungsformel sein; weil dort ein ähnliches Thier vorkommt. Es half aber nichts; es schien sie schon zu kennen. Inzwischen wuchs das Thier gräßlich, und nahm deutlicher Form und Gestalt an. Man denke: es war, als wenn es sich bei den Schläfern rekrutirte; als wenn es Glied um Glied aus deren geöffneten Mäulern sich ergänzte; als wenn das Thier das Produkt der Seelen der hier Schlafenden sei. Der Kopf war menschlich; ein altes, faltiges Weibergesicht; im übrigen gutmüthig; mit Kaffeetassen-Lippen. Rings um die gepflegten Löckchen die Umrisse einer Mords-Haube wie aus durchsichtbarem Gahsstoff; quer durch diese Haube sah er noch die Orgelpfeifen blitzen. Oft schwankte der ganze Koloß wie ein Luftballon hin und her; oft schien er sich wie mit Filztappen auf die Kirchenstühle zu stützen und langsam emporzuheben. Das entsetzliche Weibergesicht kam ihm inzwischen immer näher; es hatte wässerig-blaue Augen; der Rumpf zeigte hinten wallroßähnliche, braun ausladende Glieder; während der Fischschuppenschwanz hinten bei den Orgelpfeifen noch beschäftigt war. Bis dahin hatte er noch die gut memorirte Predigt mit der unerhörtesten Selbstüberwindung herausgeschrieen, in der Meinung, das Thier müsse schließlich zurückweichen. Als es aber zuletzt mit schmatzendem Maul und fauligen Zähnen direkt auf ihn losgekommen, habe er in dieser höchsten Noth die Bibel gepackt, und sie ihm ins Gesicht geschleudert. Der schwere Band fiel platschend auf den weißgescheuerten Boden der Kirche. Der danebensitzende Bauer erwachte, schaut verwundert um sich, und - in diesem Augenblick war das Thier verschwunden, radikal fort, als ob es nie existirt hätte. Die Kirche wurde wieder hell und freundlich.

- Nun kam er auf den Gedanken, daß es der Schlaf der in der Kirche Sitzenden sei, der das Thier erzeuge. Und in dieser Voraussetzung habe er nun den Rest der Predigt dem eben erwachten Bauern mit solcher Vehemenz ins Gesicht geplärrt, daß dieser nicht mehr einschlafen konnte. Es ging auch alles gut. Er konnte die Predigt glatt vollenden. Mit dem Schluß-»Amen!« erwacht alles; denn das war ihr Stichwort zum Aufwachen.  - Oskar Panizza, Pastor Johannes. In: Ders., Der Korsettenfritz. Geschichten. München 1981 (zuerst ca. 1905)

 

Seele Tiere, hypothetische

 

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