Feele, gefangene  Prudence war groß und hager, ganz aus Knochen, gewaltigen Knochen. Der Leib selber, der gar nicht aufhören wollte, war gleichsam sein eigenes Schema geworden: ein mystisches Dreieck, das sich in die Schultern hinein verbreiterte und dessen Spitze sehr weit weg zwischen zwei kurzen Beinen sein Ende fand. Sie sah aus, als hätte man sie mit dem Hackmesser aus Weißholz gehauen und angemalt. Nicht aus affektierter Nachlässigkeit, sondern weil sie mit der Kargheit fast einen Kult trieb, wusch sie sich sonntags Gesicht und Hände in dem gleichen Napf, der ihr täglich als Eßschüssel und Nachttopf diente; wenn sie weinte, färbte der Schmutz der Wimpern und Lider ihre Tränen schwarz, deren Spur man über das Gesicht und den ganzen Körper hätte verfolgen können. Ihre steifen, schweren Gliedmaßen, ganz aus einem Stück, warf sie nach allen Seiten herum, jäh, ungeduldig, fast brutal in ihren Bewegungen. Um jedoch selber nicht das allzu unwürdige Aushängeschild eines Ladens zu sein, wo es um die Eleganz ging, kleidete Prudence sich mit Vorliebe in die ausgefallensten Modelle, die ihr aus den letzten Jahren als Ladenhüter geblieben waren, was ihr inmitten ihres ärmlichen Plunders das Aussehen eines Aschenputtels aus dem «Illustrierten Modejournal» verlieh, und dem Wort Nouveautés, das in goldenen Lettern über dem Gesims ihrer Ladentür prangte, den Anstrich eines grimmigen Scherzes verlieh. Alle Hautechaumes stotterten vor dem Herrn; auch Prudence stotterte: ohne die endlosen Pausen, zu denen ihr Leiden sie regelmäßig nach jeder fünften Silbe verurteilte, hätte sie rascher gesprochen als jede andere Einwohnerin von Chaminadour, mit der mathematischen Geschwindigkeit einer unerbittlichen Maschine; unvermittelt, voll verhaltener Nervosität, zuckten ihre Selbstgespräche auf, wurden heftiger und sanken verflackernd zurück in das dumpfe Schweigen einer gefangenen Seele. Die Provinz, die sie seit fünfzig Jahren ihre Fratzen schneiden sah, nahm das Zucken ihres Mundes, das rasche Schnattern ihrer buchsbaumdunklen Zähne, all das Komische und zugleich Tragische, das ihr anhaftete, schon längst nicht mehr wahr; wer ihr aber zum erstenmal begegnete, war so betroffen, daß ihm ein Schrei entfuhr.  - Marcel Jouhandeau, Prudence Hautechaume oder Die Schaufensterpuppen der Diebin. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
 
 

Seele Gefangenschaft

 

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